Märchen sind leichter

Für das täglich wechselnde Spielfilmprogramm auf den deutschen Inseln sorgt eine weltweit einzigartige Zunft: die Kinoflieger

Die einmotorige Cessna 72 XP hat 500 Meter Flughöhe, die Rundumsicht ist gut. Schon klar: Dort unten liegt das Wattenmeer. Da sind die vielen Schafe auf ihren Weideflächen am Deich. Da ist die schwere graue Leere des Watts. Das einsame Haus des Vogelwarts auf einer Sandinsel. Die Urweltlichkeit der Priele, die von den Salzwiesen und Schlickflächen in die See mäandern.

Auch klar: Jan-Lüppen Brunzema auf dem Pilotensitz ist nicht der Postflieger und Dichter Antoine de Saint-Exupéry. Jan-Lüppen Brunzema, Jahrgang 1952 und mit den ersten hellen Strichen im dunklen Bart, ist kein wortgewaltiger Südfranzose, er ist Ostfriese. Aber seine Fracht ist pure Fantasie und kann es in ihren besseren Momenten durchaus mit dem „Kleinen Prinzen“ aufnehmen. Brunzema ist Kinoflieger, das gibt es nur einmal auf der Welt. Er transportiert die Filmrollen mit den neuesten Luftschlössern aus Hollywood und Babelsberg auf die Nordseeinseln.

Von der holländischen Grenze bis hoch in den Norden, knapp vor Dänemark, dreht der Kinoflieger seine Frachtrunde über dem Wattenmeer. Er beliefert einen Verbund von Inselkinos, angefangen beim „Kur-Filmtheater“ auf Borkum und den „Insel-Lichtspielen“ auf Juist bis zum nordfriesischen „Lichtblick“ auf Amrum. Die große Tour ist nötig für die Blockbuster. Die werden nur verliehen, wenn ein Kino lange Spielzeiten garantieren kann. Und das schaffen die Inselspielstätten nur im Verbund; zusammen sind sie so stark wie ein Großstadtkino.

Drei Mal in der Woche wechseln die Filme im Watt, bei Wind und Wetter. Nach ein paar Wochen, wenn auch die Gäste auf den Inseln gewechselt haben, kommen die Filme wieder. Der Kinoflieger Brunzema hält seinen ausgetüftelten Flugplan ein, selbst wenn der Herbststurm über die Tragflächen hechelt und Regenböen die Cockpitfenster peitschen. Jan-Lüppen Brunzema fliegt bis elf Beaufort. „Hier an der Nordsee“, sagt er, „wird man immer wieder an seine Grenzen erinnert.“ Er mag das.

Heute Nachmittag zeigt sich die Nordsee von ihrer sanften Seite. Es ist Frühling, und das nächste Unwetter läuft bloß im Kino und muss bis zum Abend warten. Dann bringt das „Lichtblick“ auf Amrum den Dokumentarfilm Sturmflut. „Ein Streifen“, sagt Jan-Lüppen Brunzema über den Kopfhörer im Cockpit, „der auf allen Inseln gern von den Gästen gesehen wird.“ Was er nicht sagt: Er spielt mit seinem Flugzeug selbst eine Rolle in dem Nordseefilm. Das ist schon beinahe wie die Puppe in der Puppe, wenn der Kinoflieger auch seine eigene Filmrolle zum Kino fliegt, und es ist Saint-Exupéry, der vom „Zauber meines Berufes“ spricht.

Wenig zauberhaft hat der Tag heute am Boden begonnen, sogar die sanfte Luft kann ihre schlimmen Tücken haben. LFH, Luftverkehr Friesland Harle, heißt das Unternehmen, dessen Chef Jan-Lüppen Brunzema ist, samt eigenem Platz und Terminal, und es befindet sich in Harlesiel. Das liegt gegenüber von Wangerooge, einem Ortsteil von Carolinensiel. Der Nachbarort heißt Neufunnixsiel. Doch an diesem Montag geht der Blick nicht auf Schleusen und Plattbodenschiffe, sondern sucht die Landebahn. Die läuft 510 asphaltierte Meter parallel zum Seedeich.

Dort draußen vor der Abfertigungshalle der LFH ist die Welt erwacht. Milchiges Grün auf den Wiesen, darüber weiße Nebel. Graue Wolkenbänke schummeln Berge ins friesische Flachland. Von ihren Gipfeln verläuft zarte Morgenröte in dünnes Blau. Ganz dort oben nähen Düsenflieger scharfe Säume in den Himmel.

Heute Morgen hat Jan-Lüppen Brunzema viele Gespräche von seiner Zentrale aus geführt, die alle mit der Frage begonnen haben: „Warum hast du gestern deine Suppe nicht gegessen?“ Denn draußen auf den Inseln, die dringend mit neuen Filmen beliefert werden müssen, herrscht eben das: dicke Suppe. Der größte Feind des Kinofliegers ist nicht der Sturm, es ist der Seenebel. Bei Starts und Landungen versagt der Instrumentenflug, dann fliegt Brunzema mit seiner Maschine auf Sicht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 50. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Reimer Eilers und Theodor Barth

Autor Reimer Eilers, Jahrgang 1953, ist Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf. Als Junge fieberte er in den sechziger Jahren den Sonntagen entgegen, wenn sich die Inselkantine in ein Kino verwandelte.

Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, hatte zu den Flugkünsten Brunzemas grenzenloses Vertrauen – „kein Wunder“, so Barth, „wenn der Pilot über 300 Tage im Jahr in der Luft verbringt“.

Mehr Informationen
Vita Autor Reimer Eilers, Jahrgang 1953, ist Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf. Als Junge fieberte er in den sechziger Jahren den Sonntagen entgegen, wenn sich die Inselkantine in ein Kino verwandelte.

Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, hatte zu den Flugkünsten Brunzemas grenzenloses Vertrauen – „kein Wunder“, so Barth, „wenn der Pilot über 300 Tage im Jahr in der Luft verbringt“.
Person Von Reimer Eilers und Theodor Barth
Vita Autor Reimer Eilers, Jahrgang 1953, ist Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf. Als Junge fieberte er in den sechziger Jahren den Sonntagen entgegen, wenn sich die Inselkantine in ein Kino verwandelte.

Fotograf Theodor Barth, Jahrgang 1964, hatte zu den Flugkünsten Brunzemas grenzenloses Vertrauen – „kein Wunder“, so Barth, „wenn der Pilot über 300 Tage im Jahr in der Luft verbringt“.
Person Von Reimer Eilers und Theodor Barth