Mann im Meer

Vor 31 Jahren geht ein slowenischer Seemann vor Westafrika über Bord und wird in einer dramatischen Aktion gerettet. Jetzt bringt er das Trauma seines Lebens auf die Theaterbühne

Seit zwei Jahren wird in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana ein Theaterstück gezeigt, das immer ausverkauft ist. Es heißt „Mann im Meer“. Das Stück handelt von der Rettung eines in den Atlantik gefallenen Matrosen. Womöglich hat der Erfolg des Stücks mit dem eingängigen Plot zu tun, vielleicht auch damit, dass es ein Stimmungsaufheller zwischen Corona und Krieg ist. Sicher liegt die Faszination aber auch an ihm, Lotos Šparovec, hellblaue Augen, graublondes Strubbelhaar, 52 Jahre alt – und vor 30 Jahren dem Tod von der Schippe gesprungen.

Was der Schauspieler hier aufführt, ist eigentlich kein Theater. Es ist seine Geschichte. Am 9.  Juli  1993 stürzte er bei Reparaturarbeiten an der Außenwand eines Frachtschiffs vor Afrika in den Atlantik. Die Besatzung bemerkte den Sturz nicht, das Schiff fuhr weiter. Šparovec schildert auf der Bühne, wie er fast drei Stunden im „bodenlosen Blau“ verbrachte, sich vom Leben verabschiedete und es doch nicht fertigbrachte – und wie er schließlich gefunden wurde. 

Nach seiner Rückkehr galt er in Ljubljana als Wunder. „Ich war in fast jeder Zeitung, und die Leute hielten mich auf der Straße an und wollten die Geschichte hören“, sagt Šparovec, der heute Theater- und Filmschauspieler ist und zum En­semble des Stadttheaters von Ljubljana gehört.
Nach kurzer Zeit allerdings habe er die ganze Sache damals beiseitegelegt und aufgehört, darüber zu reden. Das ganze Bohei schien ihm unangemessen, „Seeleute verlieren ja nicht viele Worte“. 

Vor zwei Jahren allerdings holte er sein Erlebnis wieder hervor. „Es war die Zeit, als mit Corona die Angst in uns alle kroch, die Kontrolle zunahm und die Gesichter der Menschen immer länger wurden“, sagt Šparovec. „Ich hatte das Gefühl, eine Geschichte erzählen zu können, die Hoffnung gibt.“ Er bearbeitete sie mit einer Dramaturgin des Stadttheaters, und seit der Premiere im April 2022 kommen die Menschen ohne Unterlass: 72 ausverkaufte Vorstellungen auf der Kleinen Bühne des Theaters hat Šparovec bereits gegeben, ein Ende ist nicht absehbar.

Zu Beginn des Einpersonenstücks gehen die Zuschauer an ihm vorbei zu ihren Plätzen, während Šparovec sie ganz untheatralisch grüßt und noch die Bühnenutensilien inspiziert: ein dickes Tau, ein Modell des Frachtschiffs, einen Sextanten oder den pneumatischen Hammer, mit dem er damals an der Außenwand hantierte, um Rost zu entfernen. Dann bittet er einen Zuschauer, einen Alarmknopf an der Wand zu betätigen, worauf ein Schiffshorn ertönt.

Šparovecs damaliges Schiff ist die „Bočna“, ein etwas betagter Massengutfrachter, fast 20 Jahre alt, 142 Meter lang, 22 Meter breit, Ladekapazität: knapp 17 000 Tonnen. Er gehört zur Flotte der slowenischen Reederei Splošna Plovba, die mit ihren Schiffen nach Westafrika fährt. Benin, Ghana, Elfenbeinküste, Kamerun, das sei auf einmal „greifbare Exotik“ gewesen, sagt Šparovec. 
Damals studiert er Schauspiel an der Theater- und Filmhochschule in Ljubljana. Der dreimonatige Schiffstörn ist für ihn nicht nur ein guter Job, sondern auch die Möglichkeit zur Flucht: von zu Hause, wo die Auseinandersetzungen mit seinem Vater die Stimmung trübt; von seiner Freundin, die er eigentlich sehr mag, wenn nur ihre Familienplanung nicht so alternativlos wäre. Ihm geht das alles zu schnell. Sie weint, als er ihr abends bei einer Pizza sagt, dass aus dem gemeinsamen Sommerurlaub nichts wird und dass sie ihn verstehen müsse, weil er diese einmalige Chance sonst sein Leben lang bereuen werde. „Von so einem Unsinn habe ich sie und mich damals überzeugt.“ Dabei ist es schon Šparovecs zweite Tour nach Afrika. Die Reederei kann robuste Anpacker wie ihn gut gebrauchen, dieses Mal ist auch sein Kumpel Jure Jerkovič mit an Bord, den er seit der Grundschule kennt, ein Hobby­fotograf. 

Im Juni 1993 geht es vom Heimat­hafen Izola los nach Marseille. Dort lädt die „Bočna“ grauen, staubigen Zementklinker, der in Douala, Kamerun, gelöscht werden soll. Auf der Rückfahrt wird die halbe Atlantikküste abgeklappert und afrikanisches Tropenholz an Bord genommen, für italienische Küchenproduzenten. 
Beton für abgeholzten Regenwald – etwas „bizarr“ sei ihm diese Handelsverbindung schon vorgekommen, sagt Šparovec. Lieferketten habe allerdings damals noch niemand genau untersucht. Und auch hektische Just-in-time-Abfertigung war noch nicht die Regel. Stattdessen herrscht an Land fast völlige Entschleunigung. „In einigen afrikanischen Häfen lagen wir fast eine Woche.“ Dort sei meist ein einheimischer „Watchman“ an Bord gekommen und habe für die Sicherheit des Schiffs gesorgt und dafür, dass die Seeleute wieder unter Menschen kommen, Frauen treffen, auf den richtigen Märkten einkaufen können.

Nun, Anfang Juli, geht es erst einmal durch die Straße von Gibraltar, wo die „Bočna“ von Delfinen eskortiert wird. Jure macht ein Foto von seinem Freund Lotos in ölverschmierten Shorts. Außer den beiden sind noch 28 Mann an Bord, Kapitän, Offiziere, Mechaniker, sogar zwei Stewards und zwei Köche. Nach der Arbeit an Deck geht Šparovec meist zeitig schlafen, weil es ihn früh hinauszieht. 


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mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Nils Klawitter

Der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, kam durch einen Flugausfall in München auf den letzten Drücker im Stadttheater von Ljubljana an, wo der Hauptdarsteller Lotos Šparovec seelenruhig auf ihn wartete. Er hatte den Beginn seines Stücks auf der Foyerbühne vorsichtshalber eine Viertel­stunde nach hinten verlegt.

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Vita Der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, kam durch einen Flugausfall in München auf den letzten Drücker im Stadttheater von Ljubljana an, wo der Hauptdarsteller Lotos Šparovec seelenruhig auf ihn wartete. Er hatte den Beginn seines Stücks auf der Foyerbühne vorsichtshalber eine Viertel­stunde nach hinten verlegt.
Person Von Nils Klawitter
Vita Der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, kam durch einen Flugausfall in München auf den letzten Drücker im Stadttheater von Ljubljana an, wo der Hauptdarsteller Lotos Šparovec seelenruhig auf ihn wartete. Er hatte den Beginn seines Stücks auf der Foyerbühne vorsichtshalber eine Viertel­stunde nach hinten verlegt.
Person Von Nils Klawitter