„Lernt schwimmen!“

Fragen aus allen Lagen: Schwamm sich der Mensch in der Evolution nach ganz oben?


Kaum eine andere Bewegungsart zeigt die innere Zwiespältigkeit des Menschen so anschaulich wie das Schwimmen: Einerseits rühmen wir uns, als Zweibeiner die Welt senkrecht erobert zu haben. Andererseits feiern wir die horizontale Kraft des Kraulschlags als kostengünstige Entsagung von der Schwerkraft. Mehr noch: War es nicht das Schwimmen, das die Menschheit wirklich voranbrachte? Sind wir also eher in der Lage als im Stande, uns zu entwickeln? Ein paar sehr ernsthafte Gedanken dazu aus einem geteilten Ich:

KONTRA: Eine der dankenswertesten Entscheidungen der Evolution ist, dass sie spezielle Spezies an Land warf, der besseren Entwicklung wegen. Von da ab ging es ziemlich rasch aufwärts, wo zuvor nur schleichender Fortschritt war. Anders gesagt: Wir waren ziemlich lange Fisch, ehe wir Mensch wurden.

Wir sind es eigentlich immer noch: Als Embryo schwimmen wir mit Händchen und Füßchen, die eigentlich noch Flossen sind, in unserem privaten Urozean. Wir haben Kiemen und Schwimmhäute zwischen den Zehen, einen Fischschwanz, und wenn manche dem Waschbrettbauch wie einem Kunstwerk huldigen, liegt dies an einem schuppigen Gevatter: Das Lanzettfischchen, primitiver Vorfahr der Wirbeltiere, ordnete seine Muskelproportionen zu kleinen Paketen entlang der Bauchdecke. Dass Bodybuilder und Lanzettfischchen auf einem Zweig des Stammbaums hocken, halte ich aber für klaren Quatsch. Fische können nicht hocken.

Zum Glück wurden wir trocken hinter den Ohren und drum herum, und um nicht wieder ins evolutionäre Aus zu geraten, tragen wir Regenschirme. Wir fliehen die Nässe, wir tragen in uns ein rudimentäres Gen, das die Erinnerung an trübe Welten im Wasser bewahrt. Es schützt uns, buchstäblich, vor elementaren Rückschritten.

Vor akuten allerdings nicht. Immer dann nämlich, wenn der vorzeitliche Fisch in uns, in mir es besser wissen will. Dann treibt es mich ins nächstbeste Schwimmbad, in die nächstbeste Welle, doch glücklicherweise ist das inwendige Vieh stets rasch gebändigt. Nach kurzer Zeit steige ich wieder heraus, ziehe die Badehose straff und erfreue mich des aufrechten Gangs. Selbst der eleganteste Bruststil kommt gegen ihn nicht an.

Eigentlich habe ich nichts gegen das Schwimmen. Es erhält die Art und macht schlank. Wenn ich nicht gern schwimme, hat das zu tun mit dem Salz- oder Chlorwasser, denen ich andere Getränke vorziehe. Man kann deshalb beim Schwimmen nicht in eine Art Trance geraten, eine Art meditativen Zustand, wie es etwa Langstreckenläufer gelegentlich berichten oder gar die großen Wanderer von Jesus Christus bis Bruce Chatwin: Denn kaum ist man beim Schwimmen gedankenverloren, hat man sich auch schon verschluckt. „Geht weiter!“ waren darum die letzten Worte Buddhas, nicht „Schwimmt los!“. Er wusste, dass man beim Schwimmen nicht denken kann, wie also sollte der Mensch vorankommen, buchstäblich und überhaupt?

Und es hat zu tun mit der Schrecken verheißenden Tiefe von zwei bis 2000 Meter, aus der jederzeit ein Monster auftauchen kann. Oder gar ein ziviler Kampfschwimmer. Ich werde nie sechs Richtige im Lotto haben, doch dass mich im offenen Ozean, am landfernsten Punkt, jemand rammen wird, ist sicher. „Kannste nich’ aufpassen?“ wird er glucksen und dann, im Wegschwimmen, mich mit seinen Zehennägeln markieren, dass ich aussehe wie der vom Schiffspropeller geschlitzte Wal.


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Ein Essay von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik. Sein erstes „Schwimmzeugnis“ machte er mit fünf an der Ostsee: „Für Baden, Wassertreten und Tauchen mit offenen Augen“.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik. Sein erstes „Schwimmzeugnis“ machte er mit fünf an der Ostsee: „Für Baden, Wassertreten und Tauchen mit offenen Augen“.
Person Ein Essay von Maik Brandenburg
Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik. Sein erstes „Schwimmzeugnis“ machte er mit fünf an der Ostsee: „Für Baden, Wassertreten und Tauchen mit offenen Augen“.
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