Läufer gegen den Strom

In der Vendée messen sich Athleten mit den Elementen – bei einem Wettlauf gegen die rasend schnelle Flut

Glücklich verloren in den Poldern der Vendée, irgendwo auf einer Chaussee bei Beauvoir-sur-mer. Die Straßenkarte auf der Motorhaube wellt sich in der Hitze. Wo ist das hier? Heiterer Frieden liegt über dem Land. Makelloses Azur wölbt sich über den Sumpf, und blaue Nebel färben die Szene. Das Mofa des Bauern. Er weiß den Weg aus dem Labyrinth des Marais. „Du willst zu den Foulées du Gois, äh? Die sollten das besser folies nennen, bei dem Theater!“ Die Gitanes tanzt zu seiner gespielten Entrüstung auf der Lippe, sie brennt seit Tagen nicht mehr. „Fahr zehn Minuten in Richtung des Kirchturms da drüben, dann folge der Stimme des Präfekten. Und hüte dich vor den Gräben, ich habe erst letzten Sommer einen rausgezogen. Ach warte, hier, gib die Ölkanne meinem Schwager, er vermietet die Parkplatzwiese am Gois. Raucht wie ein Schlot, du findest ihn schon.“

Der Gois ist die Nabelschnur vom continent – wie das Festland hier heißt – zur Insel Noirmoutier. Die größte Attraktion weit und breit. Viereinhalb Kilometer lang und nur bei Ebbe zu gebrauchen. Alle zwölfeinhalb Stunden teilen sich die Wasser, und der Gois taucht aus dem Atlantik. Jahrhunderte patschten die Bauern mit Holzpantinen bei marée basse über den natürlichen Damm, den heftig widerstreitende Strömungen zwischen Insel und Festland aufgeschwemmt hatten. Erst vor 80 Jahren pflasterten sie den Weg und erhöhten die Rettungspfähle für saumselige Wanderer. Seit sie weiter südlich die elegante Brücke nach Noirmoutier gebaut haben, braucht man den Gois eigentlich nicht mehr. Außer für die Muschelsammler und Touristen. Und die Foulées.

Die Foulées, die Wasserwettläufe vom Gois, sind der Höhepunkt des Festkalenders im Marais. Vor drei Jahrzehnten hatten ein paar Bauernjungen aus Beauvoir gewettet, wer es als Erster schafft, über den Gois zur Insel zu laufen. Der Witz: Sie liefen erst in dem Moment los, als die Flut am Pflaster leckte. Mit der Zeit hatte sich herumgesprochen, dass es dabei viel zu lachen gibt. Ein Grund zum Feiern. Seitdem laufen sie jeden Frühsommer.

Der Bürgermeister sagt, es war seine Idee; der Gründer der Association Les Amis du Gois, ein Geschäftsmann, sagt, ohne ihn gäbe es das alles nicht; der Unterpräfekt sagt, wenn er nicht wäre, würden heute nicht so viele kommen.

Wahr ist, dass der Geschäftsmann 1986 zum ersten Mal die Startpistole schoss. Und dass es nur kläglich „klick“ machte, weil im Deichkrug jemand ein Glas Wein darauf verschüttet hatte. Da rief er eben laut „À vos marques, prêt …“, und bei „partez!“ haute er mit einem Hammer auf eine Radkappe. Die Leute aus Beauvoir haben gelacht und sich noch ein Bier geholt.

Heute ist das alles anders. Ein großes, ausgelassenes Landfest ist daraus geworden, mit Volksläufen auf dem Damm, die das Vorspiel zum großen Finale sind: dem Lauf der Profis contre la mer, gegen das steigende Wasser. Die Leute kommen aus dem ganzen Departement. Sogar Autos aus Nantes und Saint-Nazaire stehen auf der Parkplatzwiese hinterm Deich. „Und jetzt auch noch die Weltpresse“, seufzt der Geschäftsmann und prüft versonnen den Sitz seines Toupets.

Bald geht es los. Die Anzeige an der Rampe zum Gois kündigt in großen Ziffern die Zeit des nächsten Hochwassers an. Noch drei Stunden. Der Gois biegt sich weit durchs Watt, Algen trocknen an seinen Rändern, die Rettungspfähle lenken das Auge zu dem Schemen der Insel, der schmal den Horizont verdunkelt.


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mare No. 56

No. 56Juni / Juli 2006

Von Karl J. Spurzem und Bertrand Desprez

Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist Chef vom Dienst bei mare.

Der Fotograf Bertrand Desprez, geboren 1963, lebt in Paris. Er ist Mitglied der Agentur VU.

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