Lady Curzons Fluch

Konsommee aus dem Fleisch der Schildkröte galt – weil exklusiv wie exotisch – lange als die „Königin der Suppen“

An einem lauen Sommerabend des Jahres 1905 ist eine schöne Dame in Nöten. Lady Curzon, Vizekönigin von Indien, gibt ein Abendessen zu Ehren eines Gastes, der keinen Alkohol trinkt. Alle anderen Geladenen aber sind Engländer und würden es als Affront betrachten, Abstinenz verordnet zu bekommen. Was tun? Schon fahren die ersten Karossen vor. Da kommt der Vizekönigin die erlösende Idee: Sie befiehlt dem Chefkoch, ein wenig Sherry in die Schildkrötensuppe zu träufeln. Die „Lady Curzon“ ist geboren: eine mit Sherry abgeschmeckte Schildkrötensuppe, die fortan die Speisekarten aller europäischen Luxusrestaurants ziert.

Zu Zeiten Lady Curzons ist die Schildkrötensuppe ein gesellschaftliches Ereignis und mithin zur Legendenbildung prädestiniert. Das Gericht gilt als „Königin der Suppen“ und obligatorische Vorspeise bei repräsentativen Anlässen von Adel und Königshäusern. Das „Ritz“ in Paris, das „Sacher“ in Wien, das „Vier Jahreszeiten“ in Hamburg: kein Luxushotel kommt ohne aus, kein Luxusdampfer – auch auf der „Titanic“ steht die Speise auf dem Menü.

Lange bevor die Suppe die Tische der Begüterten und Mächtigen erobert, essen die Bewohner subtropischer und tropischer Küsten das Fleisch der Meeresschildkröte. In der Antike schätzt man es vor allem als Arznei. Plinius listet eine ganze Reihe von Beschwerden auf, bei denen es helfen soll: Salamanderbisse, Asthma, Epilepsie, Warzen, Haarausfall.

Diese Vorstellung von der Heil bringenden Schildkröte hält sich: Als Kolumbus 1498 einen Zwischenstopp auf den Azoren einlegt, waschen sich portugiesische Aussätzige im Blut von Schildkröten. Auch auf den Schiffen europäischer Seefahrer gilt das Schildkrötenfleisch als Heilmittel, gegen Skorbut und Seekrankheit. Da die zähen Meeresreptilien bis zu einem Jahr ohne Nahrung auskommen, werden sie auch als Frischfleischvorrat gefangen, gelegentlich mit Wasser übergossen und bei Bedarf geschlachtet – eine Abwechslung von der monotonen Seemannskost.

Schildkrötenfleisch bietet auch der europäischen Christenheit Abwechslung: Die muss in Folge strenger Fastengebote 150 Tage im Jahr ohne Fleisch auskommen. Fisch dagegen ist erlaubt. Und als Fisch gilt alles, was unter der Wasseroberfläche schwimmt – folglich auch die lungenatmende Meeresschildkröte. Ab dem 16. Jahrhundert ist eine „magere Schildkrötensuppe“ als Fastenschüssel gang und gäbe, etwas Besonderes ist sie nicht.

Als etwas Besonderes gilt sie offenbar auch nicht einem Mann, der im ausgehenden 17. Jahrhundert an einem Tisch in seinem Versailler Antichambre sitzt und umringt von einem schweigenden Hofstaat alleine speist. Dem Sonnenkönig Ludwig XIV. von Frankreich wird bei seinem täglichen öffentlichen Mahl auch Schildkrötensuppe gereicht. Allerdings stellt sich die Frage, ob sie ihm überhaupt aufgefallen ist. Neben der Schildkrötensuppe zieren den adligen Tisch nämlich 24 weitere Gerichte, die alle auf einmal aufgetafelt werden, um zu demonstrieren, was der Herrscher sich alles leisten kann – unter anderem Lattichsuppe, Rinderzungenragout, Kapaun mit Austern, Rebhühner in Orangensauce, Granatäpfel und Lerchenpastete. So ein Mahl war „kein Gourmetvorgang“, betont der Historiker Johannes Kunisch, „sondern eine Machtdemonstration. Wahrscheinlich hat der König an der Schildkrötensuppe nur genippt, bevor er sie den Dienstboten übergab, die sich dann über den kalten Teller hermachten.“

Ihren Ruf als Delikatesse verdankt die Schildkrötensuppe nicht dem Adel, sondern dem aufsteigenden Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Diese neue Gesellschaftsschicht nimmt Abschied vom großen Auftafeln. Jetzt zählt die einzelne Speise. Dem Bürger, der sich nicht qua Geburt, sondern durch eigene Leistung seinen Platz erkämpft hat, geht es um die Kennerschaft des Feinschmeckers, die ihn vom Volk abgrenzt. Ihm gefällt das Verfeinerte, Nuancierte und Exotische, erläutert der Sozialhistoriker Uwe Spiekermann. Kaum ein Gericht erfüllt diese Kriterien besser als die Schildkrötensuppe.


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Von Katharina Kramer

Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 40 erklärte sie, was am Roten Meer rot ist.

Die Abbildungen sind Werner Fischers Buch Köstlichkeiten internationaler Kochkunst entnommen. Das Kochbuch aus den siebziger Jahren spiegelt den Zeitgeist sehr gut wider. Wenige noch lieferbare Exemplare des historischen Werks sind zu bestellen beim Matthaes Verlag, Stuttgart, Telefon 0711-21 33 329.

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Vita Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 40 erklärte sie, was am Roten Meer rot ist.

Die Abbildungen sind Werner Fischers Buch Köstlichkeiten internationaler Kochkunst entnommen. Das Kochbuch aus den siebziger Jahren spiegelt den Zeitgeist sehr gut wider. Wenige noch lieferbare Exemplare des historischen Werks sind zu bestellen beim Matthaes Verlag, Stuttgart, Telefon 0711-21 33 329.
Person Von Katharina Kramer
Vita Katharina Kramer ist freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 40 erklärte sie, was am Roten Meer rot ist.

Die Abbildungen sind Werner Fischers Buch Köstlichkeiten internationaler Kochkunst entnommen. Das Kochbuch aus den siebziger Jahren spiegelt den Zeitgeist sehr gut wider. Wenige noch lieferbare Exemplare des historischen Werks sind zu bestellen beim Matthaes Verlag, Stuttgart, Telefon 0711-21 33 329.
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