Labor des Lebens

Auf der Vulkaninsel Surtsey beobachten Forscher erstmals, wie Tiere und Pflanzen unberührten Fels erobern

Im Morgengrauen klingelt das Telefon den Geologen Sigurdur Thorarinsson aus dem Tiefschlaf. „Ein Vulkanausbruch südlich von Island?“ Der Wissenschaftler ist augenblicklich hellwach. Drei Stunden später kreist er schon in einem Flugzeug über dem Vulkan. Einige Meter nur ragt der Feuerberg an diesem 14. November 1963 aus dem Meer. 3600 Meter hoch speit er Rauch, Asche und Lava in weiß-grauen Wolken in den Himmel. Jeden Lavaausstoß begleitet ein Donnergrollen. Hagelkörner, die sich um herausgeschleudertes Vulkangestein bilden, prasseln auf die kleine Propellermaschine.

In den folgenden Tagen braucht Thorarinsson kein Flugzeug mehr. Er kann die jetzt 12000 Meter hohe Eruptionssäule bequem von seinem 120 Kilometer entfernten Wohnort Reykjavík beobachten. Der junge Vulkan spuckt um sich wie wild – entschlossen zu wachsen. Schon am dritten Tag ist er 550 Meter lang und 40 Meter hoch.

Inzwischen überfliegt noch ein Wissenschaftler das Eiland, der Biologe Sturla Fridriksson. Ein solcher Vulkan, der sich aus dem Meer erhebt, ist nicht nur für Gesteinskundler interessant. Auch Biologen bietet er eine seltene Gelegenheit. Sie können beobachten, wie sich auf dem völlig sterilen neuen Land nach und nach das Leben einstellt. Doch so weit ist es in jenem Herbst des Jahres 1963 noch lange nicht.

Auf dem Mittelatlantischen Rücken, aus dem die neue Insel sich erhebt, kommt es immer wieder zu Vulkanausbrüchen. Die 19000 Kilometer lange und bis zu 4000 Meter hohe unterseeische Ge-birgskette, die sich von Nord nach Süd durch den Atlantik zieht, liegt auf der plattentektonischen Nahtstelle zwischen Amerika und Europa. Ständig dringt glutflüssiges Magma aus dem Erdmantel an die Erdoberfläche. Es zwängt sich zwischen die europäische und amerikanische Platte und schiebt so die beiden Kontinente jährlich um zwei Zentimeter auseinander. Über Jahrmillionen türmten an dieser Schnittstelle Vulkanausbrüche ganz Island auf. Die meisten Eruptionen auf dem Mittelatlantischen Rücken geschehen in mehreren tausend Meter Wassertiefe. Die wenigen Vulkane, die es doch einmal bis an die Wasseroberfläche schaffen, verschlingen meist bald die bis zu 20 Meter hohen Brecher des Nordatlantiks.

Es besteht die Gefahr – so müssen Thorarinsson und Fridriksson sich eingestehen –, dass auch ihr neuer Forschungsgegenstand sich nicht lange hält. Die isländische Regierung sieht das ebenso und beeilt sich, dem neuen Inselchen vor der Südküste einen Namen zu geben. Sie taufen es „Surtsey“ – nach dem Feuerriesen Surtur, von dem die isländische Mythologie erzählt, dass er am jüngsten Tag von Süden kommt und sein Schwert bis in den Himmel schwingt.

Nach einigen Monaten hält Thorarinsson das Warten nicht mehr aus. Er möchte Surtsey betreten. Mit einem Schlauchboot und sechs Kollegen nähert er sich am 19. Februar 1964 dem Vulkan. Eine starke Strömung treibt die Wissenschaftler den Klippen entgegen. Die meterhohe Brandung macht sich ihren Spaß mit dem kleinen Boot. Klitschnass und vor Kälte zitternd, finden sich die Forscher wenig später am Sandstrand wieder – ihre Kameras und Utensilien versinken im Meer. Rechts und links von ihnen gehen mit dumpfem Aufprall so genannte Bomben nieder – an der Luft zu festem Gestein erstarrte Lavafetzen, die der Vulkan auf die Eindringlinge niederprasseln lässt. Die Geologen zwingen sich, still zu stehen. Erst im letzten Moment den Gesteinsbrocken auszuweichen: darin liegt die Kunst – und das Berufsrisiko.

Als die Forscher heil die Lavadecke erreichen, lauschen sie auf jedes Knistern, denn unter der Lavakruste klaffen Schächte mit flüssigem Magma. Gleichzeitig setzen die Wissenschaftler schnell einen Fuß vor den anderen. Wer zu lange an einer Stelle verharrt, dem schmelzen die Schuhsohlen weg. Als ein Geologe seinen Rucksack auf dem Boden stehen lässt, versengt das Gepäckstück auf die Hälfte seiner Größe.

Auch Anfang April 1964 wird Surtur das Spucken nicht leid. Auf einem Routineflug allerdings beobachtet Thorarinsson etwas Neues: Über dem Nordosten der Insel steigt eine weiße Dampfsäule auf. Im Krater hat sich ein Lavasee gebildet, in dem meterhohe goldene Fontänen spielen. Ein glühender Strom rollt die Hänge hinab ins Meer. Wo die Lava auf das Wasser trifft, kocht eine Wand aus Dampf empor. Nach Monaten des Wartens endlich die Erleichterung. Thorarinsson sendet eine Nachricht an den isländischen Rundfunk: „Ein Lavafluss hat begonnen. Der Bestand der Insel ist gesichert.“ Die Lavadecke wird dem Vulkan einen Schutzschild gegen die Erosion des Nordatlantiks bieten.

Die isländische Regierung erklärt den auf 2,7 Quadratkilometer angewachsenen Vulkan zum Forschungsterrain. Kein Tourist, kein Fischer, niemand darf ihn betreten. Die Wissenschaftler sollen beobachten können, wie sich die Insel ohne jeglichen menschlichen Eingriff entwickelt. Von diesen Untersuchungen verspricht man sich auch Erkenntnisse darüber, wie man in einem Land wie Island, wo alle fünf Jahre ein Vulkan ausbricht, verödete Gebiete wieder erfolgreich mit Pflanzen besiedeln kann.


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Katharina Kramer und Jonathan Olley

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