Kurz währende Ewigkeit

Im Marseiller Exil fand Walter Benjamin nicht, wonach er suchte

Kellner in langen weißen Schürzen bringen Wermut, Limonade und Mokka an die Tische. Das „Café Riche“ am Prachtboulevard La Canebière ist mit seinen verschnörkelten Säulen, den opulenten Rosenfenstern und deckenhohen Spiegeln der Konterpart zu den sündigen Hafenkneipen von Mar­seille. Das gedämpfte Brasserieambiente und die feine Kleidung der Gäste haben ein wenig von Pariser Distinguiertheit, während Marseille ansonsten der medi­terrane Gegenpol zur Hauptstadt ist: proletarisch, provenzalisch leger, chaotisch, an­rüchig, maßlos. 

An diesem 8. September 1926 sitzt Walter Benjamin, von Depressionen gepeinigter Philosoph, Denker und Schriftsteller, im „Café Riche“. Er ist am Vortag mit seinem Freund, dem Philosophen Ernst Bloch, von Paris mit dem Zug in Marseille angekommen. Er trifft sich im „Riche“ mit seinem vorausgereisten Kollegen Siegfried Kracauer, Feuilletonredakteur der „Frankfurter Zeitung“. Sie wollen die Möglichkeiten erkunden, die Marseille ihrer publizistischen Tätigkeit bieten könnte. Dabei lassen sie sich nicht von dem giftigen Kommentar der Schriftstellerin George Sand abschrecken: „Es ist eine Stadt der Händler und Kleinkrämer, wo das intellektuelle Leben gänzlich unbekannt ist.“

Benjamin stattet Jean Ballard, dem Herausgeber der „Cahiers du Sud“, einen Besuch ab. Die Literaturzeitschrift ist von offenem europäischem Geist geprägt, veröffentlicht sowohl französische Avant­garde als auch internationale Autoren. Während Benjamins Verleger in Berlin und Paris ihn im Stich lassen, lädt Ballard ihn ein, in seinem Magazin zu publizieren. Es ist der Beginn von zwar kurzen, aber intensiven Begegnungen Benjamins mit der Hafenstadt, wegen ihres regen Handelsverkehrs auch „Tor zum Orient“ genannt. Benjamin will von hier aus nach Palästina übersiedeln, verschiebt den Plan jedoch immer wieder, bis er ihn aufgibt. Ende September 1926 kommt der Viel­reisende, nach einer Stippvisite an der Côte d’Azur, zum zweiten Mal nach Marseille, um sich erneut mit seinem Gönner Jean Ballard zu treffen. Dieser sagt ihm zu, einen Essay, den Benjamin über Marcel Proust geschrieben hat, in seinen „Cahiers“ zu drucken. Der Kontakt fällt Benjamin leicht, da er Französisch spricht und schreibt. 1892 in Berlin in einer gut situierten jüdischen Kunsthändlerfamilie ge­boren, wird er als Kind von einer französischen Gouvernante betreut. In der Kaiser-Friedrich-Schule in Charlottenburg, die er ab dem zehnten Lebensjahr besucht, gehört Französisch zum Lehrprogramm.

Benjamin hat als rastloser und neugieriger Flaneur bereits die urbane Wandlung in Metropolen wie Berlin, Paris und Moskau porträtiert, aber mit der Enträtselung von Marseille tut er sich schwer. „Es ist schwieriger, nur drei Zeilen über diese Stadt zu schreiben, als ein ganzes Buch über Rom.“ So erscheinen Benjamins sinnliche Eindrücke über die Mittelmeermetropole versprengt und verzögert in seinem unerschöpflichen literarischen Kosmos. Ein kleiner Text über die Kathedrale La Major wird 1928 im Aphorismenbuch „Einbahnstraße“ publiziert. Benjamin vergleicht die 1893 eingeweihte Kirche, wegen ihrer Fassade mit Streifendekor von den Marseillais als „Pyjama“ bespöttelt, ironisch mit einem Riesenbahnhof der Religionen. „Auszüge aus der Eisenbahnverkehrsordnung hängen als Hirtenbriefe an den Wänden, Tarife für den Ablass auf die Sonderfahrten im Luxuszug des Satans werden eingesehen, und Kabinette, wo der Weitgereiste diskret sich reinwaschen kann, als Beichtstühle in Bereitschaft gehalten.“

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mare No. 158

mare No. 158Juni / Juli 2023

Von Rob Kieffer

Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Anders als Benjamin hat er bei seinen Recherchen in Marseille auf Haschisch verzichtet. Einige ­Gläser des lokalen Pastis Ricard halfen hingegen schon, sich in die provenzalische Atmosphäre der ­ungestümen Hafenstadt hineinzufühlen.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Anders als Benjamin hat er bei seinen Recherchen in Marseille auf Haschisch verzichtet. Einige ­Gläser des lokalen Pastis Ricard halfen hingegen schon, sich in die provenzalische Atmosphäre der ­ungestümen Hafenstadt hineinzufühlen.
Person Von Rob Kieffer
Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Anders als Benjamin hat er bei seinen Recherchen in Marseille auf Haschisch verzichtet. Einige ­Gläser des lokalen Pastis Ricard halfen hingegen schon, sich in die provenzalische Atmosphäre der ­ungestümen Hafenstadt hineinzufühlen.
Person Von Rob Kieffer