Kulis heile Welt

Kino für die Westentasche. Im durchsichtigen, Paraffin gefüllten Rohr des Kugelschreibers treiben Eisberge und sinken Schiffe

Es begann mit einer schwarzhaarigen Schönheit. Innerhalb von wenigen Sekunden färbte sich ihre Lockenpracht rot. Nicht wirklich, nur en miniature, aber doch so überzeugend, dass sich damit der Absatz des Haarfärbemittels „Noreen“ deutlich steigern ließ. Die Frau war ein Modell, gebannt auf Zelluloid und von Hand koloriert. Und es war gegen Ende der vierziger Jahre, als dieser werbewirksame Trick gelang – in einem Kugelschreiber.

Eine leichtes Kippen des Stiftes genügte für die Zauberei. Bald darauf begannen sich die Damen im Kugelschreiber zu entblättern. „Tip & Strip“ hießen die wundersamen Schreibgeräte, in denen Bikinischönheiten wie in Zeitlupe zur Freude der Besitzer sozusagen ihre Hüllen fallen ließen – um sich im umgekehrten Schwung wieder brav zu bedecken. Eine Art Peepshow für die Westentasche, vor allem in den Souvenirshops der Hafenstädte ist sie auch heute noch sehr gefragt.

Aus den im Rückblick doch eher skurril wirkenden Anfängen ging bald der „Floaty Pen“ oder „Schwimmstift“ hervor, bei dem ein bewegliches Motiv vor festem Hintergrund gleitet – ein Prinzip, wie geschaffen für die Sujets der maritimen Welt. Luxusliner vor mächtig aufragenden Eisbergen, Wikingerschiffe, moderne Containerfrachter, einsame Segler vor bizarrer Küstenlandschaft, transatlantische Fähren, chinesische Dschunken, Hammerhaie in stiller Tiefe oder auch Fischerkähne auf offenem Ozean – nahezu jedes Meeresthema fand irgendwann auch im Kugelschreiber Platz. Und zwar zumeist als winziges Gefährt vor endlosem Horizont. Kein Wunder, wurde doch dadurch das Prinzipder Seefahrt schlechthin stilisiert: Enge in grenzenloser Weite.

Die Magie entsteht dabei vor allem durch das Spiel mit der Animation, dem Beweglichen im Umfeld der Unbeweglichkeit. Elegant gleiten Regattayachten oder Dampfer auf großer Fahrt vor weitem Himmel und ewigem Meer, das in Wahrheit weniger als sechs Quadratzentimeter misst und ziemlich flach ist.

Tatsächlich gleitet nämlich nur ein winziger Filmschnipsel, der auf dem „Schwimmer“ befestigt ist, entlang einer Führungsschiene. Alles zusammen lagert im so genannten Motivrohr, dem mit Paraffin gefüllten, durchsichtigen Oberteil des Kugelschreibers. Den Hintergrund bildet ein längliches Bildchen, das erst durch die Lupenwirkung des Plastikröhrchens seine Tiefe gewinnt. Man sieht im Grunde ein Zerrbild, und die Kunst des Herstellers besteht darin, die Wirkung vorher richtig einzuschätzen. So können Kreise wie Ellipsen, lang gestreckte Rechtecke wie Quadrate oder Schrägen senkrecht wirken. Am schwierigsten aber ist es, die Komponenten blasenfrei einzubauen.

„Diese Methode ist streng geheim“, sagt Christian Andres, der in 15 Jahren mehr als 3000 Schwimmstifte gesammelt hat und inzwischen auch selbst welche entwirft. Produziert werden die meisten Stifte von den 150 Angestellten der dänischen Firma Eskesen in einem Dorf nahe Kopenhagen. „Zwar gibt es inzwischen billige Kopien aus Hongkong, Italien oder Osteuropa“, sagt Andres, „aber Eskesen beherrscht den Weltmarkt.“


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Von Roland Brockmann und Heike Ollertz

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.

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Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Roland Brockmann und Heike Ollertz
Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Roland Brockmann und Heike Ollertz