Kraft durch Fischsahne

Die Kriegswirtschaft der Nazis suchte so verzweifelt wie ideenreich nach Wegen aus dem Nahrungsmittelmangel. Ausgerechnet bei Fischmehl wurde man fündig. Ein Unternehmer aus Bremerhaven entwickelte daraus einen Eiweißersatz.

Die Fabrik Johann Hinrich Wilhelms roch immer etwas strenger als andere. Es war der heiße Dampf aus den Schornsteinen, der so penetrant nach Fisch stank. Drinnen in der langen Werkshalle standen Seite an Seite die Trockner: Stahlkolosse so groß wie Dampflokomotiven, in denen sich schwere Trommeln drehten. Darin wälzte sich ein Brei aus Anchovis, Wittlingen und Fischabfällen, bis am Ende trockenes Fischmehl aus der Maschine rieselte.

Eigentlich war die Fabrik nichts Außergewöhnliches, eine Fischmehl- und Tranfabrik, von der es in Bremerhaven noch fünf andere gab. Doch am 1. Mai 1940 rollte ein beeindruckender Autokorso durch den Fischereihafen Ost bis vor das Fabriktor; wuchtige Mercedes-770-Limousinen, sechs Meter lange Cabriolets – vorne Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, im Wagen dahinter Robert Ley, Leiter der DAF, der Deutschen Arbeitsfront, ein bulliger Mann im speckig glänzenden Ledermantel mit Halbglatze und Hitlerbärtchen. Das grau verputzte Fabrikgebäude hatte man mit ein paar Girlanden aus Tannengrün und Schleifchen geschmückt, eine Lagerhalle leer geräumt, um Platz für 800 Stühle zu schaffen. Jetzt saßen darauf Männer in Anzügen und Parteiuniformen. Von der Decke hingen Banner mit Hakenkreuzen – und natürlich die „Goldene Fahne“ mit den glänzenden Fransen und dem Hakenkreuz mit dem Zahnrad. Denn um die ging es ja schließlich.

An jedem 1. Mai zeichnete die Deutsche Arbeitsfront „nationalsozialistische Musterbetriebe“ aus, die sich „im Leistungskampf der deutschen Betriebe“ hervorgetan hatten. Neben einer Urkunde in DIN-A3-Format gab es die Goldene Fahne der DAF und einen anerkennenden Händedruck von Heß und Ley. In diesem Jahr war Johannes Krüß an der Reihe, der Geschäftsführer der J. Hinr. Wilhelms KG. Ley spulte seine Propagandafloskeln ab: Krüß habe sich um „Volksgesundheit“, „vorbildliche Heimstätten und Wohnungen der Mitarbeiter“ und um „Kraft durch Freude“ verdient gemacht.

Doch es steckte mehr dahinter. Das Wohlwollen der Nationalsozialisten hatte Krüß nicht zuletzt einer ungewöhnlichen Substanz zu verdanken, die für die Partei strategisch wichtig war. Krüß produzierte seit einiger Zeit neben Fischmehl für die Schweinemast und Lebertran auch ein Trockenpulver – einen Hühnereiersatz aus Fisch, der sich zu Margarine, Kuchenteig oder sogar Sahne verrühren ließ, das sogenannte Wiking-Eiweiß. Die Fabrik lieferte das Eiweiß nicht nur säckeweise an Konditoreien, sondern auch in Tablettenform zu den Landsern an die Front. Sollte es an Nachschub mangeln, würde es Fischpille statt Frischfleisch geben. 1936 hatte Krüß die Eiweißanlage eingeweiht. Im ersten Jahr lieferte sie 31 Tonnen, 1943 waren es mehr als 500 Tonnen.

Schon nach der Weltwirtschaftskrise 1929 hatten Politiker der Weimarer Republik vor der „Fett- und Eiweißlücke“ gewarnt, der Mangelernährung der deutschen Bevölkerung. Für 40 bis 50 Prozent der Menschen gebe es nicht genug Fett, hieß es damals, für 30 Prozent nicht genug Eiweiß. So experimentierten Forscher zu Beginn der 1930er Jahre mit Eiweißersatzstoffen – mit Blut aus Schlachthöfen oder Hefeeiweiß aus Brauereiabfällen.

Die Nationalsozialisten trieben die Ersatzwirtschaft auf die Spitze. Das Deutsche Reich sollte autark werden, vor allem, weil es wegen der gigantischen Ausgaben für Rüstung und Arbeitsbeschaffungsprogramme kaum Devisen gab, um Rohstoffe im Ausland zu kaufen. 1936 formulierte Hitler den Vierjahresplan. Innerhalb von vier Jahren sollten Wehrmacht und Wirtschaft kriegsbereit und Deutschland autark sein. Viele deutsche Forscher folgten. Sie perfektionierten die Benzingewinnung aus heimischer Kohle und die kautschukfreie Gummiproduktion, und Fisch wandelte sich zum Hühnereisubstitut. Die Meere erschienen den Nazis als unerschöpfliche Eiweißquelle.

Der britische Schriftsteller George Orwell beschrieb 1939 in seinem Roman „Coming Up for Air“, welche Blüten die deutsche Ersatzwirtschaft damals trieb: „Sie nennen es ‚Ersatz‘. Ich erinnere mich, dass ich gelesen habe, dass sie Würste aus Fischen machen und zweifellos Fisch aus irgendetwas anderem.“ Tatsächlich hatte es Versuche gegeben, Rinds- und Schweinewurst mit Fisch zu strecken. Doch Lebensmittelschützer wetterten gegen den Etikettenschwindel. Im September 1937 verbot das Reichs- und Preußische Innenministerium mit einem Erlass die „Irreführung des Verbrauchers“. So sei etwa die Bezeichnung „Neptun-Bratwurst“ unzulässig. Unter dem Namen „Neptun-Fisch-Bratwurst“ aber wollten die Kunden das Produkt nicht haben.

Beim Wiking-Eiweiß, das als geschmacks- und geruchloses Pulver daherkam, war es anders. Johannes Krüß belieferte Firmen, die das Pulver unterrührten. Als Fischprodukt deklarieren mussten sie es nicht. Auch in Zeitungsannoncen war von Fisch keine Rede. „Wiking-Eiweiß E13 – der neue deutsche Rohstoff für die Margarine-Industrie – verwendbar wie Ei- gelb“, hieß es schlicht.


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Tim Schröder

Für Tim Schröder, Jahrgang 1970, Autor in Oldenburg, nahm die Recherche eine überraschende Wende, als er auf die Schwiegertochter des Fabrikanten stieß. Statt trockener Literatur bekam er bei Christa Krüß einen Kräutertee und viele alte Geschichten aufgetischt.

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Vita Für Tim Schröder, Jahrgang 1970, Autor in Oldenburg, nahm die Recherche eine überraschende Wende, als er auf die Schwiegertochter des Fabrikanten stieß. Statt trockener Literatur bekam er bei Christa Krüß einen Kräutertee und viele alte Geschichten aufgetischt.
Person Von Tim Schröder
Vita Für Tim Schröder, Jahrgang 1970, Autor in Oldenburg, nahm die Recherche eine überraschende Wende, als er auf die Schwiegertochter des Fabrikanten stieß. Statt trockener Literatur bekam er bei Christa Krüß einen Kräutertee und viele alte Geschichten aufgetischt.
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