König Knopf im Kummerland

Richtig gelesen, ist die Kindergeschichte von „Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer“ eine höchst aktuelle Gesellschaftskritik

Was würden wir heute zu einem neuen Kinderbuch sagen, das folgende Geschichte erzählt? Auf einer kleinen Insel leben lauter hellhäutige Glückselige – bis plötzlich ein kleiner, dunkelhäutiger Junge übers Meer in die Gemeinschaft kommt und die Verteilung von Grund und Boden so sehr durcheinanderbringt, dass für die Alteingesessenen bald kein Platz mehr ist. Unmöglich? Aber genau diese Fabel aus einem der beliebtesten Kinderbücher Deutschlands ­lesen Eltern ihren Kindern allabendlich zum Einschlafen vor: Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.

Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte von nicht nur gestrig, sondern vollends aus der Zeit gefallen. Da ist eine Insel, die wie ein Mikrokosmos des Westens erscheint. Ein Supermarkt, ein Untertan, ein Schloss und eine gut ausgebaute Eisenbahn. Allen geht es gut – bis das Postschiff ein Paket mit einem dunkelhäutigen Jungen in das Inselparadies bringt. Er wird zwar liebevoll aufgenommen, aber seine Anwesenheit führt schon bald zu einer Überbevölkerung, die den König zum Handeln zwingt. Wenige Jahre nach der Ankunft des Jungen müssen der alteingesessene Lokführer Lukas und seine Lokomotive das kleine Land verlassen. Es gehe nicht anders, setzt der König dem Bürger Lukas auseinander. Es handele sich um eine Regierungsentscheidung zugunsten des Neubürgers Jim Knopf. Je älter er werde, desto mehr Platz werde er benötigen. Da müsse man vorausschauend planen. Schwer sei diese Entscheidung auch ihm, dem König, gefallen, aber so sei das eben mit dem Regieren. Irgendwer muss jetzt den Preis zahlen für die Lummerland’sche „Willkommenskultur“. Und: Der Platz im Paradies reicht eben nie für alle.

Spätestens bei dieser Botschaft möchte man das Buch zuschlagen und weit weg ins Regal stellen. Vielleicht zu Enid Blyton, auch so einer Inselautorin, deren latenten Rassismus gegen ­„Zigeuner“ und andere Nichtureinwohner der Britischen Inseln man heute keinem Kind mehr ungefiltert zumuten mag. Doch Michael Ende nicht weiterzulesen wäre ein Fehler. Denn wer tatsächlich einmal seine beiden Jim-Knopf-Bände im Hinblick auf die Zusammenhänge einer globalisierten Welt betrachtet, der wird zu erstaunlichen Erkenntnissen gelangen. Man muss die ­Bücher nur – und das ist wichtig – bis zum Ende lesen.

Am Anfang ist das Meer. Die Insel der Glückseligen, Lummerland, verdankt ihren Wohlstand der Abschottung. Denn natürlich passieren in Endes Fabelwelt genauso viele schlimme Dinge wie in unserer Gegenwart. Allein, an den Stränden der Insel mit den beiden Bergen weiß man davon nichts und will offensichtlich auch nichts davon wissen. Lummerland ist wie ein Kontinent umschlossen von Wasser, abgeschottet von allen Problemen der Zeit. Bis diese urplötzlich als Paket in diese Blase einbrechen. Mit Jim Knopfs Ankunft ändert sich alles. Der Einbruch der Welt von draußen setzt einen Prozess in Gang, an dessen Ende Lummerland keine Insel mehr sein wird. Die Grenzen werden Hunderte Kilometer weit verschoben sein und der Inselkönig seine Macht eingebüßt haben. Und die Balance von Gut und Böse in aller Welt wird nur wenige Jahre später auf den Kopf gestellt sein.

Aber der Reihe nach.

Jim Knopf und Lukas verlassen mit der zum Schiff umfunktionierten Lokomotive Emma die Insel. Der Weg nach draußen führt übers Meer, jener in Endes Geschichte omnipräsenten Grenze, die völlig unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse und Normen voneinander zu trennen vermag. Das zeigt schon die erste Reise der beiden: In Lummerland fährt die Lokomotive ins Wasser, um einige Tage später an der Küste eines imaginären ­Chinas wieder das Land zu erreichen. Die Städte dieses Riesenreichs ­erweisen sich in Endes Schilderung als derart überbevölkert, dass dagegen Lummerlands angebliche Platzprobleme aus der Welt gegriffen scheinen. Offenbar brauchen Chinesen wesentlich weniger Platz als Lummerländer.


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mare No. 120

No. 120Februar / März 2017

Von Alexander Kohlmann

Der Dramaturg und Theaterjournalist Alexander Kohlmann, geboren 1978, verband Jim Knopf lange ausschließlich mit den putzigen Marionetten der Augsburger Puppenkiste, bis er für ein Theaterprojekt die Geschichte noch einmal neu las. Überrascht stellte er fest, wie viel Michael Endes Welt­entwurf mit unserer Gegenwart zu tun hat.

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Vita Der Dramaturg und Theaterjournalist Alexander Kohlmann, geboren 1978, verband Jim Knopf lange ausschließlich mit den putzigen Marionetten der Augsburger Puppenkiste, bis er für ein Theaterprojekt die Geschichte noch einmal neu las. Überrascht stellte er fest, wie viel Michael Endes Welt­entwurf mit unserer Gegenwart zu tun hat.
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Der Dramaturg und Theaterjournalist Alexander Kohlmann, geboren 1978, verband Jim Knopf lange ausschließlich mit den putzigen Marionetten der Augsburger Puppenkiste, bis er für ein Theaterprojekt die Geschichte noch einmal neu las. Überrascht stellte er fest, wie viel Michael Endes Welt­entwurf mit unserer Gegenwart zu tun hat.
Person Von Alexander Kohlmann