Klassenzimmer ohne Aussicht

Vom Lebenstraum zum -albtraum: An der Marineakademie in Odessa werden junge Ukrainerinnen und Ukrainer zu Seeleuten ausgebildet. Aber der Krieg macht ihre Zukunft ungewiss

Die Tür öffnet sich, und die gesamte klasse steht stramm. Alle sind von den Holzstühlen aufgesprungen in ihren adretten marineblauen Uniformen und starren mich an. Besuch aus dem Ausland gibt es selten an der Odessa Maritime Academy, seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine schon gar nicht. Auch ich bin irritiert, wie so oft, seit ich in Odessa lebe. Der Drill, der militärisch anmutende Schmuck auf den Matrosenhemden – Epauletten, Goldpaspeln und Wappen – lassen auf den ersten Blick nicht darauf schließen, dass es sich hier um eine zivile Ausbildungsstätte für Seeleute handelt. 

Die Gesichter der Jugendlichen in den altmodischen Uniformen wirken verschlossen. Sie sind zwischen 14 und 17 Jahre alt, pubertierende junge Männer und ein Drittel junge Frauen, die an der Marineakademie als Elektromechanikerinnen, Navigatoren oder Logistikerinnen ausgebildet werden. Sie sollen später auf Handelsschiffen arbeiten, mit denen die Ukraine als Kornkammer der Welt hauptsächlich Mais und Weizen exportiert. Die Akademie hat international einen guten Ruf, ihre Absolventen sind gefragt in der Handelsschifffahrt und finden überall sofort eine Anstellung, wie mir der Vizedirektor der Akademie Oleksandr Shemyakin versichert. Doch die Moderne scheint weit weg. Nirgends sehe ich Overheadprojektoren oder Whiteboards, kein Studierender benutzt einen Laptop. Stattdessen: komplizierte mathematische Formeln mit Kreide an Tafeln geschrieben und vergilbte Fotos verdienter Alumni, teilweise noch aus Sowjetzeiten, an den Wänden. 

In Odessa lernt man, seinen Kompass immer wieder neu zu kalibrieren. Deshalb habe ich mich in diese Stadt verliebt, als ich über meine Flüchtlingshilfs­organisation Be an Angel nach Kriegsbeginn zum ersten Mal hierherkam und Odessa bald darauf zu meiner Teilzeitheimat machte. Als langjähriger Reise- und Architekturjournalist durfte ich die schönsten Metropolen der Welt besuchen – doch Odessa hat sie alle übertroffen, die Strände, die Boulevards, die Architektur, die hartnäckige Lebenslust. Gerade wer meint, bereits alles gesehen und verstanden zu haben, geht hier täglich zurück auf Anfang. Die verwirrende Gleichzeitigkeit von extremen Widersprüchen gehört zum Alltag. 

Auch in der Akademie wird zwischen Katastrophe und Routine, zwischen Moderne und Vergangenheit für die Zukunft nach dem Krieg gepaukt. Wer hierher zum Studieren kommt, will vor allem eines: weg. Die Kaderschmiede der ukrainischen Seeleute liegt etwa 500 Meter oberhalb des Hafens von Odessa. Jetzt im Winter, wenn die Bäume keine Blätter tragen, kann man vom Haupteingang, neben dem ein riesiger Anker lehnt, ein wenig das Meer glitzern sehen. Das historisierende Gebäude aus dem 19. Jahrhundert vermischt Neoklassizismus mit Neoromantik und könnte auch ein englisches Eliteinternat beherbergen. Im Gegensatz zu den Prestigebauten im Zentrum der Stadt könnte es allerdings eine Renovierung vertragen. Die rostrot getünchte Fassade blättert, dicke Sandsäcke für Straßensperren liegen vor den Kellerfenstern – der Krieg ist stets gegenwärtig.
 
Von den Klassenzimmern hat man keinen Blick aufs Meer – den Sehnsuchtsort aller, die hier die Schulbank drücken. Der Weg der Studenten aufs Wasser, zum Arbeitsplatz, zur Zukunft und zum Frieden ist durch den russischen Angriff blockiert. Seit Februar 2022 befindet sich das Land unter Dauerangriff, auch die Innenstädte mit Wohngebäuden. Nirgends ist das drastische Nebeneinander von Krieg und Normalität spürbarer als an der Wasserkante von Odessa. Im Hafen, ehemals der aktivste des Landes, herrscht ein wenig Normalität, immerhin hat die Ukraine bei den Getreideexporten beinahe Vorkriegs­niveau erreicht. Aber immer wieder schlagen nahe der Akademie Raketen und Drohnen ein. Beidseitig des Hafens erstrecken sich die endlosen, wunderschönen Stadtstrände, südlich davon liegt das Vergnügungsviertel Arcadia mit seinen hässlichen, nun touristenleeren Bettenburgen und Strandclubs, in denen im Sommer bis zur Sperrstunde um 22 Uhr aufgetakelte, angeschwipste Frauen tanzen. Viele der jüngeren Männer sind ja an der Front. 

Die Potemkinsche Treppe, das bekannteste Monument der Stadt seit dem Filmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925, liegt in der Nähe und ist im Moment militärisches Sperrgebiet: Zutritt nur für direkte Anwohner. In elf Minuten läuft man von der Akademie zu der zum Niederknien schönen Oper, wo immer noch Arien gesungen werden. Vor jeder Vorstellung gibt es die Ansage: „Bei Luftangriffen sind die Wege in den Schutzkeller ausgeschildert. Sollte der Alarm länger als eine Stunde dauern, wird die Vorstellung abgebrochen. Die Karten behalten ihre Gültigkeit.“ Das Leben mit dem Krieg hat die Odessiten pragmatisch gemacht, es hat Stadt und Bewohner in den letzten zwei Jahren aber auch deutlich gezeichnet. Der Mythos, dass Putin den historischen Kern schone, platzte bereits im November 2022. Die Innenstadt ist seitdem regelmäßig das Ziel von Bomben. Ich selbst lebe oberhalb der Potemkinschen Treppe nahe dem Hafen und sah mit eigenen Augen, wie eine Drohne der Russen ein Strandhotel ein paar hundert Meter weiter zerstörte. Immer mehr Bombenruinen mitten in der Stadt zeugen vom gnadenlosen Terror der Angreifer. 


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 163. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 163

mare No. 163April / Mai 2024

Von Andreas Tölke und Laetitia Vançon

Früher war Autor Andreas Tölke hauptberuflich Journalist und publizierte weltweit. 2015 gründete er den Verein „Be an Angel e.V.“, der seither Hunderte von Flüchtlingen in Deutschland begleitet hat. In Berlin ist aus der Vereinsarbeit das von Flüchtlingen betriebene Restaurant „Kreuzberger Himmel“ erwachsen. Seit März 2022 ist Tölke die meiste Zeit in der Ukraine, der Verein konnte bis dato 22 000 Menschen evakuieren. Spenden werden dringend benötigt. Informationen finden Sie unter www.be-an-angel.org.

Die französische Fotografin Laetitia Vançon war im Juni 2022 erstmals in Odessa und dokumentierte ­einen Monat lang die Auswirkungen des Kriegs auf junge Menschen. 2023 kehrte sie für drei weitere ­Aufenthalte in die Stadt zurück, um die Veränderungen in deren Leben zu verfolgen.

Mehr Informationen
Vita

Früher war Autor Andreas Tölke hauptberuflich Journalist und publizierte weltweit. 2015 gründete er den Verein „Be an Angel e.V.“, der seither Hunderte von Flüchtlingen in Deutschland begleitet hat. In Berlin ist aus der Vereinsarbeit das von Flüchtlingen betriebene Restaurant „Kreuzberger Himmel“ erwachsen. Seit März 2022 ist Tölke die meiste Zeit in der Ukraine, der Verein konnte bis dato 22 000 Menschen evakuieren. Spenden werden dringend benötigt. Informationen finden Sie unter www.be-an-angel.org.

Die französische Fotografin Laetitia Vançon war im Juni 2022 erstmals in Odessa und dokumentierte ­einen Monat lang die Auswirkungen des Kriegs auf junge Menschen. 2023 kehrte sie für drei weitere ­Aufenthalte in die Stadt zurück, um die Veränderungen in deren Leben zu verfolgen.

Person Von Andreas Tölke und Laetitia Vançon
Vita

Früher war Autor Andreas Tölke hauptberuflich Journalist und publizierte weltweit. 2015 gründete er den Verein „Be an Angel e.V.“, der seither Hunderte von Flüchtlingen in Deutschland begleitet hat. In Berlin ist aus der Vereinsarbeit das von Flüchtlingen betriebene Restaurant „Kreuzberger Himmel“ erwachsen. Seit März 2022 ist Tölke die meiste Zeit in der Ukraine, der Verein konnte bis dato 22 000 Menschen evakuieren. Spenden werden dringend benötigt. Informationen finden Sie unter www.be-an-angel.org.

Die französische Fotografin Laetitia Vançon war im Juni 2022 erstmals in Odessa und dokumentierte ­einen Monat lang die Auswirkungen des Kriegs auf junge Menschen. 2023 kehrte sie für drei weitere ­Aufenthalte in die Stadt zurück, um die Veränderungen in deren Leben zu verfolgen.

Person Von Andreas Tölke und Laetitia Vançon