Joseph Conrad: Der Spiegel der See

Wie beeinflußte die Tätigkeit als Kapitän den Schriftsteller Joseph Conrad?

Am 24. April 1878 schifft sich in Marseille ein junger polnischer Exilant auf dem britischen Kohlefrachter „Mavis“ ein. Er wirkt viel zu schmächtig und viel zu ernst für ein raubeiniges Leben an Bord, aber er hat sich in romantischer Verzweiflung dazu entschlossen, britischer Seemann zu werden. Hinter ihm liegen vier Jahre Exil in der südfranzösischen Bohème: Akte von Geldverschwendung, Mahnbriefe seines Onkels und Vormunds, einige Fahrten als Matrose, Waffentransporte im spanischen Karlistenkrieg und eine ominöse Romanze mit einer Dame namens Rita de Lastaola – femme fatale und Kopf eines Schmuggelsyndikates. Jósef Teodor Konrad Naleçz Korzeniowski spricht polnisch und französisch; und die einzigen englischen Worte, die er kennt, lauten: „Look out there!“ – Warnruf eines Matrosen im Hafen von Marseille, als Conrad sich verträumt am Liegeplatz des Frachtdampfers „James Westoll“ herumtreibt.

So beginnt im diffusen Raum zwischen Wirklichkeit und Fiktion die Seefahrerkarriere des Schriftstellers Joseph Conrad. Conrad ist ein Heimatloser in den politischen Wirren Europas um die Jahrhundertwende. Seine Bücher sind die Frucht seiner Jahre auf See, und sie scheinen den Geist eines Abenteurers zu atmen. Conrad selbst unterstützt diesen Mythos. Er wird sagen, die „James Westoll“ sei das erste britische Schiff gewesen, das er berührte, und er habe die lebendige Kraft des Rumpfes unter seiner Hand gespürt. Doch der wagemutige Entdeckungsreisende in die Abgründe der menschlichen Seele hat auch eine ganz andere Seite. Es ist der unbekannte Conrad, der nach Sicherheit strebt, der die Unsicherheit des Seefahrers wie des Schriftstellerlebens nur mit höchster nervlicher Anspannung übersteht. Oft leidet er nach Abschluss eines Romans wochenlang unter Nervenfieber, und Depressionsschübe wechseln bei ihm wie das Wetter.

Seine Eltern, Angehörige des polnischen Landadels, verliert er früh – Opfer des Widerstandskampfes gegen die zaristische Besatzung des Landes. 1863, im Alter von fünf Jahren, schickt Conrad ein Fotografie an seine Großmutter und schreibt auf die Rückseite: „Meiner geliebten Großmutter, die mir half, meinem armen Vater im Gefängnis Kuchen zu schicken…“. Mit elf Jahren folgt er in Krakau dem Sarg seines Vaters. Das Kind geht allein, und hinter ihm marschieren Tausende von polnischen Nationalisten, die aus dem Begräbnis ein Fanal machen.

Als Kind hatte er keine Möglichkeit, Polen zu helfen. Im Exil in Marseille plagt er sich mit einem Widerstreit von Gefühlen in seiner Seele. Der romantische, draufgängerische Conrad spielt voller Schuldbewusstsein den verspäteten Revolutionär und verprasst das Geld seines Onkels. Er bauscht seine Beteiligung an Waffenschmuggelfahrten auf und schreibt von einem Schlüsselerlebnis: der Versenkung einer Barke namens „Tremolino“ vor der Costa Brava.

Bestückt mit Waffen für Guerillatruppen in Katalonien, steuerte man sie gegen einen Felsen, um der spanischen Küstenpatrouille zu entgehen. „Dieser Schiffbruch bedrückt meine Seele wie ein entsetzlicher Mord […] Einen Augenblick noch die vorwärtsstürmende, schwebende Fahrt, dann im nächsten Augenblick ein Krachen und Tod. […] Der Gesang des Windes hat sich in schrilles Wehgeschrei verwandelt, und die schwere See brodelt um den Leichnam.“ (Der Spiegel der See)

Die „Tremolino“ ist in den Schiffsverzeichnissen niemals gefunden worden, und es ist nachgewiesen, dass die geschilderten Ereignisse sich so nicht zugetragen haben können. Unzweifelhaft aber beruht diese Episode auf realen Geschehnissen, die sich in der Psyche des Schriftstellers verselbständigt haben. Kurz bevor sich jener schmächtige, ernst dreinblickende Zwanzigjährige in Marseille einschifft, um mit der „Mavis“ über Konstantinopel nach England zu fahren, begeht er einen fingierten Akt der Selbsttötung. Er jagt sich eine Kugel in die Brust aus Verzweiflung angesichts des fehlgeschlagenen Versuchs, mit der Welt ins reine zu kommen. Danach tritt er scheinbar geläutert und wieder mit klarem Blick jene Reisen an, an deren Ende der Schriftsteller Joseph Conrad steht.

Seefahrt bedeutet, wurzellos zu sein und zugleich Teil einer überschaubaren Gemeinschaft. Durch Loyalität, wie sie an Bord eines Wind und Wetter ausgesetzten Großseglers notwendig ist, um das Überleben der Mannschaft zu sichern, kompensiert Conrad vielleicht die Schuldgefühle gegenüber der polnischen Heimat, die er verlassen hat wie ein auf Grund gelaufenes Schiff. Die Überschaubarkeit der kleinen Bordgemeinschaft entpuppt sich dann als Möglichkeit, mit der Unüberschaubarkeit in den Beziehungen zwischen den Menschen und Gesellschaften zurechtzukommen oder wenigstens eine Möglichkeit zu finden, nicht daran verzweifeln zu müssen.

In England angekommen, heuert er auf der „Skimmer of the Sea“ an und schippert im Kohletransport zwischen Newcastle und Lowestoft. Von jetzt an nimmt er jeden Eindruck auf und speichert ihn für seine späteren Bücher. Mit den ersten Brocken Englisch im geistigen Gepäck und voller Ungeduld, die Weite der See kennenzulernen, heuert er auf dem Wollklipper „Duke of Sutherland“ an. Zielhafen: Sydney – und unterwegs die Ernüchterung einiger Stunden zwischen Leben und Tod. In schneidender Kälte hängt er im Tauwerk des Hauptmastes und versucht, das Segel zu lösen, unterstützt von einem kreischenden australischen Schiffsjungen, den das flatternde Tuch in Panik versetzt. An Bord der „Loch Etive“ hilft er, die Crew einer im Sturm leckgeschlagenen dänischen Brigg aufzunehmen, und am Weihnachtstag 1880 schickt die Mannschaft ein Fässchen mit alten Zeitungen und Feigen zu einem amerikanischen Walfänger hinüber, der bereits zwei Jahre ununterbrochen auf See ist. Auf der altersschwachen „Palestine“ Richtung Bangkok schließlich explodiert die Ladung, und man rettet sich in die Bucht von Muntok auf Java: „In der Ferne brennt ein rotes Licht über der Düsternis des Landes. Die Nacht ist weich und warm. Mit schmerzenden Augen ziehen wir an den Riemen, und plötzlich dringt ein Windstoß, beladen mit sonderbaren Düften von Blüten, von aromatischen Hölzern, aus der stillen Nacht – der erste Hauch des Ostens, der über mein Gesicht streicht. Das werde ich nie vergessen.“ (Jugend)

Conrad erlebt die Härten der See und arbeitet sich dennoch zielstrebig nach oben. Er legt in London die Prüfungen zum 2. und zum 1. Maat ab und erwirbt 1886 sogar das Kapitänspatent. Mittlerweile ist er britischer Staatsbürger und der einzige in Polen geborene Kapitän der britischen Handelsmarine. Nach jeder dieser Prüfungen muss er jedoch feststellen, dass seine Idealvorstellungen von Gemeinschaft immer wieder mit der Realität kollidieren. Die Arbeit ist hart, und Streitigkeiten unter den Seeleuten sind häufig.

Als 1. Maat auf der „Highland Forest“ berechnet er die Ladung falsch, und das Schiff fährt einen gefährlichen Schlingerkurs. Herunterfallende Spiere verletzen ihn in einem Sturm so schwer, dass er in Singapur abmustert. Als Kapitän der „Otago“ geht es ihm nicht viel besser. Bei seiner Ankunft am Liegeplatz in Bangkok findet er Schiff und Mannschaft in beklagenswertem Zustand. Fieber grassiert, die Ladung ist wertlos, und ungünstige Winde lassen die Reisezeit nach Singapur auf acht Wochen anwachsen.

Später sind seine Romane und Erzählungen durchsetzt mit Darstellungen von Stillstand, Sturm und Isolation; mit Beschreibungen von Schiffsbesatzungen, auf die sich die monolithischen Sätze konzentrieren wie das Auge eines Taifuns. Die Weite des Ozeans reduziert das Menschliche, bis es sich in einem Brennpunkt auslöscht: „Bis auf diese Landstücke war da kein Punkt am Himmel, kein Punkt auf dem Wasser, kein Dunstfetzen, kein Rauchwölkchen, kein Segel, kein Boot, keinerlei menschliche Bewegung, kein Lebenszeichen, nichts!“ (Die Schattenlinie)

Das Schreiben ist ein Versuch, die Zersplitterung der Welt fassbar zu machen, bei den Dingen zu bleiben; und das Meer erlaubt kaum eine Geste des Abweichens. Stürme werden zu Sinnbildern der Konzentration, weil die Elemente das Schiff in einen Brennpunkt stellen: „Die Welt war nichts als der schiere Ansturm schäumender Wellenberge unter einem Himmel, tief genug, um ihn mit der Hand zu berühren und schmutzig wie eine verrauchte Zimmerdecke. […] Tag für Tag und Nacht für Nacht war da nichts um das Schiff als das Heulen des Windes, der Aufruhr der See und der Lärm des Wassers, das über das Deck schoss.“ (Jugend)


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 7. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Thomas Krüger

Thomas Krüger, Jahrgang 1962, studierte Anglistik, Anglo-Amerikanische Geschichte und Geographie. Er lebt und arbeitet in Bergisch Gladbach und veröffentlicht u. a. im Merkur, Rolling Stone und Die Woche.

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Vita Thomas Krüger, Jahrgang 1962, studierte Anglistik, Anglo-Amerikanische Geschichte und Geographie. Er lebt und arbeitet in Bergisch Gladbach und veröffentlicht u. a. im Merkur, Rolling Stone und Die Woche.
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