Jon Fosse – Dem Unsagbaren eine Stimme geben

Der Norweger Jon Fosse, soeben geehrter Literaturnobelprei­s­träger, veröffentlichte 2003 bei mare eine Novelle. Jetzt traf unser Autor den Laureaten in dessen Heimat zum ausführlichen Gespräch

Das Haus und das Fenster. Ein kurzer Weg, der zu der schmalen Landstraße hinabführt, die sich am Fjord entlangschlängelt. Auf der anderen Seite des Fjords Berge, steil abfallender Fels. Die ältesten Teile des Hauses sind mehrere hundert Jahre alt. Als Signe wieder am Fenster steht und den Blick schweifen lässt, erinnert sie sich, wie ihr Mann Asle an einem stürmischen Tag Ende November zur Bucht und zum Bootshaus hinuntergegangen war und mit seinem Boot auf den Fjord ruderte.

In „Das ist Alise“, Jon Fosses 2003 erschienener Novelle, geht Signe durch ihr Haus, das von den Stimmen und Erscheinungen der Toten erfüllt ist. In dem Sturm, der an jenem lange zurückliegenden Abend tobte, schlugen die Wellen grob ans Ufer, kalter Regen peitschte über das grauschwarze Wasser, die Flut stand hoch. Himmel, Wasser und Berge waren mit der Dunkelheit zu einer einzigen Finsternis verschmolzen, einer tiefen Schwärze, in der Asle mit seinem Ruderboot verschwand. „Es gibt einige Motive, die in meinem Werk immer wieder auftauchen“, sagt Jon Fosse. „Das Bild, das ich am häufigsten verwende, ist das einer Person, die wie Signe in ‚Das ist Alise‘ am Fenster steht und auf einen Fjord oder aufs Meer hinausblickt.“ 

An einem grauen Vormittag Ende November, keine drei Wochen vor der Verleihung des Literaturnobelpreises, schlendert Fosse in Bryggen, dem mittelalterlichen Stadtviertel von Bergen, entlang des Hafenbeckens und erzählt von seiner Arbeit. Rechts das Hanseatische Museum und die ehemaligen Kontorhäuser der 1360 errichteten Auslandsniederlassung der Hanse, die bis Mitte des 18.  Jahrhunderts den Handel der Stadt beherrschte. Links der Hafen, zwei oder drei Schiffe, ein paar Möwen, die über das Wasser gleiten. „Ich nehme an, es verhält sich ähnlich wie bei einigen Malern, wie bei Mark Rothko zum Beispiel oder dem Norweger Lars Hertervig, die immer wieder das mehr oder weniger Gleiche malen, aber jedes Mal auf eine neue Weise“, sagt Fosse. „Ich benutze vertraute Motive und zeige sie dann in einem neuen Licht.“

Der im September 1959 in der Küstenstadt Haugesund geborene und in Strandebarm, einer kleinen Gemeinde am Hardangerfjord südöstlich von Bergen, aufgewachsene Fosse ist einer der großen Mystiker der Gegenwartsliteratur. Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis, den er für seine Theaterstücke und Prosawerke erhält, die „dem Unsagbaren eine Stimme geben“, so die Schwedische Akademie, habe ihn überrascht, sagt Fosse, obwohl er immer wieder für den Preis im Gespräch gewesen sei und bei Buchmachern auch diesmal weit oben auf der Kandidatenliste stand. „Um die Wahrheit zu sagen: Ich war mir sicher, dass ich den Preis eines Tages erhalten würde, nur eben nicht bereits jetzt“, sagt Fosse, der von Kritikern für Theaterstücke wie „Traum im Herbst“ oder dem auf einem lediglich imaginierten Segelboot spielenden „Ich bin der Wind“ als „Beckett des 21. Jahrhunderts“ gefeiert wird. 

Fosses Stücke sind die von einer grßen Stille und der hypnotischen Poesie einer ebenso leisen wie lakonischen Sprache erfüllten Meditationen über die Sinn- und Existenzfragen des Menschen, die Fosse auch in Gedichten und Prosawerken verhandelt. In seinen Werken ist der Abstand zwischen den Lebenden und den Toten oft nur gering, mitunter reichen sie einander die Hand. Fosse erzählt vom Verstreichen der Zeit, von der Suche nach dem Göttlichen, die den nach einer schweren Lebenskrise 2013 zum Katholizismus konvertierten Schriftsteller seit seiner Jugend antreibt. Er erzählt von einem Schweben an der Schwelle zum Tod, das selbst dann jeglicher Tragik entbehrt, wenn wie in „Ich bin der Wind“ ein Mann seinen schwermütigen Freund, den es ins Meer hineinzieht, schließlich nicht mehr im Leben zu halten vermag. Er erzählt von der Unruhe einer Frau, die in dem Stück „Sommertag“ am Fenster ihres Hauses steht und wie Signe in „Das ist Alise“ auf den Fjord hinausblickt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet. Wie Fosses gesamtes Schreiben, verdanken sich auch die drei Romane seiner gefeierten Heptalogie, in der ein verwitweter Maler in der Abgeschiedenheit eines Dorfs aufs Leben zurückblickt, der Landschaft und den Stimmungen von Fosses westnorwegischer Heimat.

„Ich habe mein gesamtes Leben in der Nähe des Meers verbracht und bin dem Meer sehr verbunden“, sagt Fosse, der mit seiner dritten Frau und zwei Kindern meist in Oslo oder im niederösterreichischen Hainburg an der Donau lebt, aber auch einen Wohnsitz in Frekhaug hat, einem nördlich von Bergen, an der Südspitze der Insel Holsnøy gelegenen Dorf. „Ich mag vor allem die raue Küste, die Gegenden im Westen Norwegens, in denen es keine Bäume gibt, in denen es nichts gibt außer dem Meer, den Steinen und dem Wind“, sagt Jon Fosse. „Dort fühle ich mich sicher und zu Hause.“ 

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 162. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Thomas David und Mathias Bothor

Der Hamburger Thomas David, Jahrgang 1967, schreibt am liebsten Porträts. 2013 erschien seine Monografie über Philip Roth.

Mathias Bothor, Jahrgang 1962, gilt als einer der gefragtesten Porträtfotografen – nicht nur für mare.

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Vita

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