Jenseits der Deiche

Auf den Westfriesischen Inseln spürte unser niederländischer Autor Sympathie für die Eigenarten ihrer Bewohner, Eigenarten, die er auf dem Festland vermisste. Das war in seiner Kindheit noch anders

Als meine Eltern irgendwann Anfang der 1970er-Jahre für die Herbstferien einen Familienurlaub auf einer der Westfriesischen Inseln planten, war mein Großvater besorgt. Er war Jahrgang 1896 und somit in einem Jahrhundert geboren, in dem Festlandbewohner noch mit einer Mischung aus Argwohn und Angst zu diesen deichlosen, windgebeutelten Sandbänken am Horizont hinüberblickten. Dort, so glaubten sie, wohnte ein Not leidendes und zügelloses Völkchen, das sich mit Plattfischen, Brei, Möweneiern und Schafskäse am Leben erhielt; Strandräuber, Strandgutsammler, Kätner und abgemusterte Matrosen, nichts als elende, rohe, gott- und gesetzlose Gesellen, die in den tückischen Gewässern gestrandete Schiffe plünderten. Die Inseln galten als Zufluchtsorte für Leute, die etwas auf dem Kerbholz hatten oder ihre Schulden nicht bezahlen konnten.

Mein Großvater war wirklich nicht leicht zu beeindrucken. Roswinkel, das isolierte, von Hochmoor umgebene Dorf, in dem er aufgewachsen war, lag an der deutschen Grenze. Sein Vater, ein verurteilter Strohdieb, der mit seinen Messern als Todesengel die Bauernhöfe abklapperte, um Schweine zu schlachten, schreckte in seiner Freizeit nicht vor Schmuggel zurück. Opas älterer Bruder setzte sich nach einem vereitelten Mordversuch aus Leidenschaft nach Wilhelmshaven ab, um als Arbeiter der Kaiserlichen Werft ein neues Leben anzufangen. Dass er eine Pistole besaß, war nicht verwunderlich. Seine Altersgenossen gingen bewaffnet zur Kirche, an Silvester schossen sie vor dem Eingang des Gotteshauses in die Luft. Und doch fürchtete sogar mein Opa, der in dieser rauen Sphäre aufgewachsen war, die Inseln vor der friesischen Küste als einen Ort, von dem man sich besser fernhielt. „Fahrt doch in die Schweiz, wenn ihr unbedingt wegmüsst“, sagte er. „Oder macht eine Rheinreise.“

Die Vergangenheit ist wie ein Stein, der in tiefes Wasser geworfen wurde. Die Erinnerung schlägt noch nach Jahrhunderten Wellen und spült Treibholz an: in unserer Sprache, unseren Gewohnheiten und unseren Ansichten. Obwohl das Schreckbild im Kopf meines Großvaters aus vergangenen Jahrhunderten stammte, wirkt manches davon bis zum heutigen Tag bei Inselurlaubern nach. Der Argwohn und die Angst wurden zwar romantisiert und in Sympathie und Sehnsucht verwandelt, aber diese Gefühle entspringen immer noch derselben Quelle. Denn in der Vorstellung vieler Urlaubsgäste beginnt auf den Inseln nördlich der friesischen Deiche eine andere Welt. Dort sind Dinge erlaubt, die auf dem Festland mit seinen strengen Regeln nicht denkbar sind, dort wird jede sorgenvolle Seele von Last und drückender Verantwortung befreit, dort blüht Liebe, die unmöglich erschien, dort herrscht nicht die Zeit, sondern herrschen die Gezeiten. Kurz und gut: Die Inseln sind Orte mit eigenen Gewohnheiten, eigenen Gesetzen und eigener Mentalität. Und das hat eine lange Geschichte.

Als vor 12 000 Jahren die letzte Kaltzeit endete und die Steppe zwischen dem europäischen Kontinent und England allmählich vom Schmelzwasser des zurückweichenden Landeises bedeckt wurde, begann die Nordseeküste, die Zehntausende von Jahren Schottland mit Skandinavien verbunden hatte, nach Süden zu wandern. Das vordringende Meer nahm Sand von den erodierenden Küstenzonen mit und lagerte ihn vor den Mündungen der immer weiter zurückgedrängten Flüsse wieder ab. Dieser Sand häufte sich zu Bänken und schließlich Inseln auf, die nach einiger Zeit vom steigenden Wasser weggeschwemmt wurden, er fand weiter südlich erneut Halt und bildete Bänke. So schob das wachsende Meer die Inseln vor sich her wie Schiffe, deren Anker nicht greifen, bis sie dort landeten, wo sie heute liegen – eine Kette von Barriereinseln, getrennt von Seegatten, mit Dünen an der Seeseite und Salzwiesen an der Wattseite.

Die holländische Westküste schloss sich allmählich. Die Seegatten versandeten, eine Dünenkette von Texel bis zum Delta des Rheins entstand. Das schlammige Gebiet hinter den Dünen vermoorte, und in den folgenden Jahrtausenden hob sich Holland langsam aus dem Sumpf, wie ein Brot im Ofen wächst.

Doch im Norden der Niederlande und Deutschlands blieben die Seegatten offen, und zwischen dem Festland und den Inseln behauptete sich ein bewegliches Nichtland, das abwechselnd vom Meer überflutet wird und trockenfällt. Wie ein Echo des 18. Jahrhunderts in den Ansichten meines Großvaters widerhallte, so hallt das Ende der Kaltzeit noch donnernd in der Un­ruhe dieses Küstengebiets nach.

Die Menschen, die sich an dieser Küste niederließen, mussten vor allem dafür sorgen, nicht unterzugehen. Sie überlebten in einem Gebiet, das den römischen Offizier und Naturforscher Plinius den Älteren bei seinem Aufenthalt im Norden rätseln ließ, ob es nun zum Land oder zum Meer gehörte. Die aufständischen Friesen und Chauken, Küstengermanen, die sich nicht dem Römischen Reich einverleiben lassen wollten, weideten ihre Kühe und Schafe auf dem fruchtbaren Marschland und warfen für ihre Gehöfte und Siedlungen Hügel auf, auf denen sie halbwegs sicher waren, wenn bei Sturmfluten das Meer über die Marschen hinweg nach Süden ausgriff. 

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke

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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Mathijs Deen und Jeroen Hofman

Der niederländische Schriftsteller und Radiojournalist Mathijs Deen, Jahrgang 1962, lebt in Amsterdam und auf Texel – und kennt sich daher bestens aus mit den Mentalitäten auf dem Festland und den Inseln. Kürzlich erschien sein bereits vierter Roman auf Deutsch im mareverlag, Der Taucher.

Jeroen Hofman, Jahrgang 1976, Fotograf in Amsterdam, hat eine spezielle Arbeitsweise entwickelt: Seine Landschaftsbilder entstehen immer auf einem Kran in 20 Meter Höhe.

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Der niederländische Schriftsteller und Radiojournalist Mathijs Deen, Jahrgang 1962, lebt in Amsterdam und auf Texel – und kennt sich daher bestens aus mit den Mentalitäten auf dem Festland und den Inseln. Kürzlich erschien sein bereits vierter Roman auf Deutsch im mareverlag, Der Taucher.

Jeroen Hofman, Jahrgang 1976, Fotograf in Amsterdam, hat eine spezielle Arbeitsweise entwickelt: Seine Landschaftsbilder entstehen immer auf einem Kran in 20 Meter Höhe.

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Der niederländische Schriftsteller und Radiojournalist Mathijs Deen, Jahrgang 1962, lebt in Amsterdam und auf Texel – und kennt sich daher bestens aus mit den Mentalitäten auf dem Festland und den Inseln. Kürzlich erschien sein bereits vierter Roman auf Deutsch im mareverlag, Der Taucher.

Jeroen Hofman, Jahrgang 1976, Fotograf in Amsterdam, hat eine spezielle Arbeitsweise entwickelt: Seine Landschaftsbilder entstehen immer auf einem Kran in 20 Meter Höhe.

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