Japanischer Kraftstoff

Wenn Sumoringer kochen, freut sich der Fischer. Nur wer eifrig Fischsuppe löffelt, hat das Zeug zum Sieger

Zehn Schalen Reis mittags, zehn Schalen Reis abends, dazu jeweils drei Schüsseln Fischeintopf, große Schüsseln natürlich. Er musste essen, viel essen, mehr essen. Er musste so viel essen, bis er sich beinahe erbrach. Essen war Schwerstarbeit und Akihide Naruyama 15 Jahre alt.

Heute ist der Zopf ab, das Haar wieder kurz, so wie es einst war, bevor Naruyama beschloss, dem Vater nachzueifern und einer von denen zu werden, die sie in Japan so verehren. Ein Sumoringer, ein edler Mann von großer Kraft.

Naruyamas Lokal liegt versteckt in einer Seitengasse, nicht weit von der „Halle der nationalen Kampfkunst“ in Tokio. Ein paar blanke Holztische, an der Wand gerahmte Erinnerungen, die den Raum schmücken: die Handabdrücke der ehemaligen Kollegen aus dem Sumoclub, die alte Brokatschürze des Vaters, der Stolz jedes Ringers, mit Kordeln und einer rot gestickten Sonne, die in den Wellen versinkt, die Fotos vom Kampf.

Hinter der Bartheke fängt die Küche an, dort regiert Naruyama in Gummistiefeln über dampfende Töpfe. Naruyama packt einen Fisch, klatscht ihn aufs Brett, schlitzt ihn auf. Seine Hände sind immer noch kräftig. Es sind die Hände, die sich ins Fleisch seines Gegners gruben und sich im fremden Lendentuch verkrallten, während sein Bein sich um das Bein des anderen schlang und es nach innen wegdrückte. Soto gake heißt die Technik, soto gake war Naruyamas Spezialität im Ring. Damals wog er 140 Kilogramm, jetzt sind es nur 100. Doch das Doppelkinn wackelt wie eh und je. Wenn Naruyama sitzt, sieht er aus wie ein freundlicher Buddha mit Goldrandbrille, aber eigentlich sitzt er nie. Er bewegt sich geschmeidig und flink zwischen halb geöffneten Schranktüren und Bergen von Tofu und Zwiebelringen. Er kocht chanko nabe, den Eintopf der Sumoringer. Dieses Mal aber müssen die anderen essen.

Naruyama hat das Restaurant als Rentner eröffnet, mit 28 Jahren. Da war seine Zeit als Ringer schon seit vier Jahren vorbei. Als sein neues Leben begann, fehlte es an vielem, vor allem an Geld. Denn in die höheren Ränge, wo Bewunderung und Gehalt ins Grenzenlose wachsen, hatte Naruyama es nie geschafft. Einen Trumpf aber hatte Naruyama im Ärmel, war doch Küchendienst im Sumostall Pflicht: Er kannte das Geheimnis einer Siegermahlzeit.

Ordentlich Salz muss in die Brühe, denn wer um fünf Uhr morgens aufsteht, um zu trainieren – Mann gegen Mann, bis zur totalen Erschöpfung, der Körper gezeichnet von des Lehrmeisters Bambusstock –, der schwitzt auch. Genauso wichtig sind Vitamine und Eiweiß, also wallt vom Chrysanthemenblatt bis zum Pilz alles in der Suppenschüssel, nicht zu vergessen: der Fisch.

Naruyama nimmt immer Meerbrasse oder Dorsch und fürs Auge noch ein paar Shrimps, Austern oder Krabben. Fleisch war bei den sumotori früher verpönt. Wenn du einen Vierfüßer isst, wirst du selbst auf allen Vieren im Ring enden, orakelte man. Die Furcht vor der Niederlage war groß. Heute futtern die Ringer reihenweise Hamburger und Hot Dogs, kaum jemand glaubt mehr an solchen Schnickschnack, auch Naruyama nicht. Aber dass sich das Glück locken, dass es sich umgarnen und becircen lässt, davon sind die schweren Jungs nach wie vor überzeugt: Hast du einen Kampf gewonnen, rasiere erstens dein Gesicht nicht, wähle zweitens denselben Weg zur Turnierhalle wie beim letzten Mal, setze drittens denselben Fuß zuerst auf! „Oder“, sagt Naruyama grinsend, „kehre viertens in dein Stammlokal zurück!“

Wenn die Sumoringer einfallen, kann Naruyama gar nicht so schnell kochen, wie seine Gäste essen. Während der großen Wettkämpfe in Tokio kommen die Sportler jeden Tag hierher. Für diese Fälle hat Naruyama eigens ein Schild aufgehängt: „Diese Wand bitte nicht zum Üben benutzen!“ Sumotori neigen dazu, jede Säule, an der sie vorbeigehen, mit kurzen, harten Schlägen zu malträtieren. Manchmal serviert Naruyama seinen Ringern übrigens auch Eintopf mit Geflügel. Das gilt als unbedenklich. Hühner haben ja nur zwei Beine.


Chanko nabe mit Fisch

Zubereitung der Brühe

Seetang zusammen mit 10 Tassen Wasser in einen Topf geben und erhitzen. Kurz vor dem Kochen den Seetang herausnehmen. 30 bis 50 Gramm getrocknete Bonito-Flocken einrühren. Zwei bis drei Minuten warten. Sobald sich die Flocken auf dem Boden absetzen, die Brühe durch ein Sieb in eine große, feuerfeste Schüssel gießen. Etwas mehr als eine halbe Tasse Sojasauce und genauso viel süßen Reiswein hinzu fügen. Die Schüssel auf einen Tischherd mit Gasflamme stellen und die Brühe sprudeln lassen.

Am Tisch

Alle Zutaten auf einem Teller dekorativ arrangieren: Kohl, Rettich, Karotten, Sojabohnensprossen, Schwarzwurzel, Lauch, Pilze, Chrysanthemenblätter, rohen und fritierten Tofu, wahlweise Meerbrasse oder Dorsch, Shrimps, Krabben und anderen Fisch. Zuerst sollte das Meeresgetier in die heiße Suppe, danach das Gemüse. Nach 5 bis 7 Minuten ist alles gar.

mare No. 45

No. 45August / September 2004

Von Sandra Schulz und Jeremy Sutton-Hibbert

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Redakteurin bei mare. Seit 2008 ist sie Spiegel-Redakteurin und berichtete mehrere Jahre aus Asien. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.

Foto: Jeremy Sutton-Hibbert

Mehr Informationen
Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Redakteurin bei mare. Seit 2008 ist sie Spiegel-Redakteurin und berichtete mehrere Jahre aus Asien. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.

Foto: Jeremy Sutton-Hibbert
Person Von Sandra Schulz und Jeremy Sutton-Hibbert
Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Redakteurin bei mare. Seit 2008 ist sie Spiegel-Redakteurin und berichtete mehrere Jahre aus Asien. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.

Foto: Jeremy Sutton-Hibbert
Person Von Sandra Schulz und Jeremy Sutton-Hibbert