Islands Geirfugl

Wie endete der Riesenalk?

Reykjavík im März: 6 Grad – Nieselregen. Vor dem Eingang der „Búnarbankinn“, der Landwirtschaftsbank am Laugavegur, der Hauptstraße, steht ein großer Pinguin und flattert mit seinen kurzen Flügeln. Den Kindern überreicht er in bunte Folien verpackte Schokoladeneier. Natürlich ist das kein richtiger Pinguin, sondern nur ein etwa zwölfjähriger Junge, der in einem Vogelkostüm Werbung für die größte isländische Bank macht.

Aber warum ausgerechnet in Pinguinverkleidung? Haben die Biologielehrer uns nicht ausdrücklich gelehrt, dass Pinguine Vögel der Südhalbkugel sind und am Nordpol überhaupt nicht vorkommen?

„Hvad segirdu?“ nuschelt der Pinguin – Wie geht es Dir? – und reicht mir seinen spitzen Flügel. „Tut mir leid. Ich spreche kein Isländisch“, entgegne ich. Doch er wackelt nur munter mit dem Körper und tritt einen Schritt nach vorn: „Das macht nichts. Du kannst ruhig Englisch mit mir sprechen. Do you want to shake my wing?“ Artig schüttle ich die angebotene Flügelspitze.

„Nein, nein. Pinguine hat es hier nie gegeben“, wehrt Ævar Petersen ab. Der stattliche Wissenschaftler gilt als kundigster Vogelkenner Islands und residiert in einem kleinen Büro am Ende des Laugavegur. Direkt unter ihm, im 2. Stock des unauffälligen Reihenhauses befindet sich auch das „Náttúrufræ∂istofnun Íslands“, das Naturkundemuseum des Landes. Eigentlich besteht es nur aus zwei 80 Quadratmeter großen Räumen: Einer beherbergt heimische Mineralien, Flechten und Moose, der andere zeigt staubfrei hinter Glas die reiche Vogelwelt der Insel. In einer Vitrine mit Seevogelpräparaten schleicht ein ausgestopfter Polarfuchs mit einer Eiderente in der Schnauze davon. „Dafür lohnt sich natürlich keine extra Säugetierabteilung...“, kommentiert trocken der Aufsichtsbeamte Herr Magnús Magnússon und deutet auf den Entenräuber. Tatsächlich gab es bis auf den Polarfuchs ursprünglich keine wilden Landsäugetiere auf Island.

Da Island bei der letzten Eiszeit fast vollständig mit einem Eispanzer bedeckt war, konnte sich keine spezielle, endemische Flora und Fauna entwickeln. Die Besiedlung durch Vögel erfolgte und erfolgt noch heute über das Meer. Gut, der isländische Brachvogel hat im Gegensatz zu seinen Artgenossen auf dem europäischen Festland mittlerweile einen kleinen dunklen Strich am Auge, und die Zaunkönige vom Skaftafell-Nationalpark wiegen ein Drittel mehr als die auf dem Kontinent. Aber das ist dann auch schon alles.

1912 erreichten die ersten Stare Island, 1960 gab es in Reykjavík schon 4000 Exemplare des Vogels. Vor acht Jahren erreichte nach einem langen Flug über den Atlantischen Ozean eine Gruppe von Hausspatzen einen kleinen isländischen Bauernhof im Nordwesten. Heute leben am und um den Hof etwa zwanzig Spatzen: eine Attraktion – besonders für einheimische Touristen.

Der größte Stolz der Vogelsammlung des Naturkundemuseums in Reykjavík aber ist der 1971 im Auftrag des isländischen Staates bei Sothebys in London ersteigerte ausgestopfte „Pinguinus im-pennis“. Er thront unter einem hohen Glassturz in der Mitte des Vogelraumes. „Nein, nein, der sieht zwar fast genauso aus wie ein Pinguin, ist mit diesem aber überhaupt nicht verwandt“, erläutert Ævar Petersen. Die Isländer kennen ihn als „Geirfugl“, was soviel wie Speervogel bedeutet und mit der Schnabelform zu tun hat. Sein deutscher Name lautet „Riesenalk“, manchmal wird er wegen seiner weißen Flecken vor den Augen auch „Riesenbrillenalk“ genannt.

Tatsächlich ist der flugunfähige Meeresvogel Namensgeber des uns bekannten Pinguins. Ursprünglich nämlich lautete der Name des Riesenalks „Pinguin“, was soviel wie „der Fette“ bedeutet. Der Tordalk, ein Verwandter des Riesenalks, heißt übrigens noch heute auf französisch „petit pingouin“. Portugiesische Seefahrer, die auf ihren Entdeckungsfahrten in die Ozeane der Südhalbkugel unzählige hell-dunkel gefärbte Vögel entdeckten, die nicht fliegen konnten, hochaufgerichtet herumwatschelten oder geschickt im Meer tauchten, glaubten Riesenalken vor sich zu haben und berichteten vom Vorkommen des „Pinguin“. Die Pinguine der Südhalbkugel erhielten ihren Namen so aufgrund einer Verwechslung mit den damals viel bekannteren Riesenalken.

Einst besiedelte der bis zu achtzig Zentimeter messende Vogel in großen Kolonien die flachen Küstenregionen des Nordatlantiks von Europa bis Amerika. In der Steinzeit soll er sogar an Spaniens Stränden und südlich des heutigen New York vorgekommen sein. Die erst 1991 entdeckte Unterwasserhöhle Cosquer bei Marseille barg unter anderem zwei steinzeitliche, über 25000 Jahre alte Zeichnungen des Riesenalks. Nur in dieser Höhle ist ein Bild des Vogels zu finden, der vermutlich auch auf dem Speisezettel der Steinzeitmenschen stand.

Jahrhundertelang wurde das zahme, harmlose und an Land tolpatschige Tier gejagt. Sein Fleisch, Fett und die Eier galten als besonders wohlschmeckend. Schiffe, die den Nordatlantik durchquerten, booteten auf kleinen Inseln und Stränden aus, um die arglosen Tiere totzuschlagen oder als lebenden Proviant mitzunehmen. Die Federn, Daunen und Bälge fanden als Brennmaterial Verwertung. Anfang des 19. Jahrhunderts war der Riesenalk fast ausgerottet. Um 1830 gab es ihn nur noch auf einigen schwer zugänglichen Inseln und Schären vor Island. Durch seine Seltenheit bedingt, wurde er fortan zum heiß begehrten Sammelobjekt von Ornithologen und Naturforschern.

„Unser Präparat stammt von der Islandfahrt des dänischen Grafen F.C. Raben im Jahr 1821, der seine Sammlung ausgestopfter Vögel auf Schloß Aalholm in Dänemark komplettieren wollte“, sagt Ævar Petersen und lehnt sich dezent gegen den Sockel der großen Vitrine.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Wolfgang Müller

Wolfgang Müller, Jahrgang 1957, ist Bildender Künstler, Musiker und Autor in Berlin. Der Islandfreund und -spezialist arbeitet zur Zeit an einem deutsch-isländischen Blaumeisenbuch, das demnächst erscheinen wird.

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Vita Wolfgang Müller, Jahrgang 1957, ist Bildender Künstler, Musiker und Autor in Berlin. Der Islandfreund und -spezialist arbeitet zur Zeit an einem deutsch-isländischen Blaumeisenbuch, das demnächst erscheinen wird.
Person Von Wolfgang Müller
Vita Wolfgang Müller, Jahrgang 1957, ist Bildender Künstler, Musiker und Autor in Berlin. Der Islandfreund und -spezialist arbeitet zur Zeit an einem deutsch-isländischen Blaumeisenbuch, das demnächst erscheinen wird.
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