Inseln der Wärme

Wie baut man ein Iglu? Eine Anleitung

Vierzig bis fünfzig Schneeblöcke ergeben ein Schneehaus. Sie werden 50 Zentimeter lang, 30 Zentimeter hoch und 8 Zentimeter dick aus einer Schneewehe gesägt. Heutzutage bedienen sich die Jäger nördlicher Breiten oder auch schon mal Rekruten auf Manöver zum Herstellen der Blöcke eines handelsüblichen Fuchsschwanzes. In einem Durchmesser von vier Metern spiralförmig aufeinandergestellt und nach innen geneigt ergeben diese Blöcke eine regelmäßige Halbkugelkuppel von zwei Meter Höhe und enormer Festigkeit. Sie trägt mühelos das Gewicht eines Eisbären. Dass die Arbeit nicht ganz unkompliziert ist, stellte schon der Polarforscher Roald Amundsen, selbst nicht ganz unerfahren im Iglu-Bau, in einem Bericht resigniert fest: „Wie viele Schneeblöcke habe ich nicht bei dieser Arbeit auf den Kopf bekommen!“

In der Kuppel beträgt die Temperatur unabhängig von den äußeren Bedingungen immer null Grad. Schon eine einzige Stearinkerze sowie die Körperwärme von zwei Personen genügt, um die Temperatur um einige Grade steigen zu lassen. Schnee gibt ein so hervorragendes Isolationsmaterial, dass sich ein Iglu vom Hubschrauber aus mit einer Wärmekamera nicht ausmachen lässt. Mit dem bloßen Auge ist es ohnehin nicht zu entdecken: In der arktischen Weite ähnelt es einer von vielen Schneewehen. Pfeift draußen ein Eiswind, der den Atem auf der Fellkante des Anoraks sofort zu Reif werden lässt, dann ist es im Innern des Schneehauses kuschelig warm. Schneehäuser lassen sich mit den Oasen der Wüste vergleichen: Ermöglichten den Wüstennomaden die Wasserstellen der Oasen das Überleben, so waren es für die Nomaden der Arktis, die Eskimo, diese Inseln der Wärme.

Die Eskimo nennen das Bauwerk Iglu, da sie jedes Gebäude Iglu nennen. Dieses Wort bedeutet in der Eskimosprache einfach Haus. Demzufolge heißt auch der Reichstag in Berlin in der Eskimosprache Iglu. Wer der Frage auf den Grund zu gehen sucht, wer heute eigentlich noch in Iglus wohnt, muss sich auf eine Enttäuschung gefasst machen: Außer gelegentlich ein paar Jägern auf der Jagd niemand. Auch in historischen Zeiten war der Gebrauch des Iglus als Dauerwohnstatt rar: Die Eskimo Grönlands und Alaskas wohnten den Winter über in Torf- und Erdhäusern; die der kanadischen Ostküste hatten Häuser aus Treibholz. Nur einer relativ kleinen Gruppe Eskimo in den nördlichen Regionen Kanadas blieb keine andere Wahl: Hierher verirrt sich kein Treibholz, und die Erde ist ein paar Handbreit unter der Oberfläche gefroren: Permafrost.

Der Stockholmer Dozent in arktischer Ethnologie Rolf Kjellström schätzt, dass in früheren Zeiten höchstens 20 Prozent aller Eskimo in den Wintermonaten in einem Iglu wohnten. Nur etwa weitere zehn Prozent besaßen die Fähigkeit, ein Iglu zu bauen, und über die Hälfte hatte nicht einmal von Iglus gehört. Kjellström berechnet die Bauzeit mit einem Mithelfer, Erfahrung vorausgesetzt, auf gut zwei Stunden.

Die Netsilik-Eskimo gelten als unbestrittene Meister im Iglu-Bau. Diese Kunst wird vom Vater an den Sohn weitergegeben. Sie leben an der arktischen Küste des nordamerikanischen Kontinents, näher bestimmt oberhalb des Polarkreises zwischen dem 100. und dem 88. Breiten- sowie dem 73. und 68. Längengrad, nicht allzuweit entfernt vom magnetischen Nordpol auf einer Halbinsel, die den Namen Boothia-Peninsula trägt. Sie wird von der Committee Bay, der Victoria Strait und der Bellot Strait begrenzt, eine baumlose, seen- und flussreiche Tundra, auf der nur Moose, Flechten und verschiedene Gräser wachsen, in den Flußsenken auch schon einmal niedrige Buscharten wie das Heidekraut. Der Permafrost beginnt bereits einige Handbreit unter der Erdoberfläche. Im Januar betragen die Temperaturen im Durchschnitt 20 Grad minus und sinken gelegentlich bis auf 50 Grad: Ein menschenfeindlicheres Klima ist kaum vorstellbar. Alles zum Überleben Notwendige lieferten einige wenige Tiere: Aus den Geweihen der Karibus, des kanadischen Wildrens, wurden u. a. die Harpunen hergestellt, mit denen im Winter die Seehunde erlegt wurden. Aus ihren Häuten fertigte man Kleider, die von Karibusehnen zusammengehalten wurden. Brennstoff lieferte im Winter Tran aus Seehundspeck. Dieser Speck wurde in ganzen Seehundhäuten verwahrt. An der Zahl prallgefüllter Seehundhäute ließ sich der Wohlstand einer Familie ablesen.

Im Sommer fingen die Netsilik-Eskimo in den Seen und Flüssen des Hinterlandes Lachsforellen, im Herbst an den Flussübergängen von Kajaks aus Karibus und im Winter dann, wenn das Meer zugefroren war, Seehunde, denen sie an den Löchern, die sich diese von unten ins Eis kratzten, mit der Harpune auflauerten. Eine Jagdmethode, die viel Geduld und außerdem Teamarbeit erforderte. Nach einem Monat war der Jagdgrund erschöpft. Die Netsilik zogen weiter die Küste entlang und bauten in etwa zehn Meilen Entfernung eine neue Siedlung aus Schneehäusern.

Mit dem Auftauchen von Jagdgewehren geriet das Ökosystem durcheinander: Seehunde und Karibus wurden stark dezimiert. Heute haben die Netsilik-Eskimo deswegen ihren nomadischen Lebensstil aufgegeben. Sie leben in drei Siedlungen: Gjoa Haven, Spence Bay und Kugardjuk.

Roald Amundsen hatte 1905 Gelegenheit, einen der Stammesältesten der Netsilik-Eskimo, Atikleura, und seine Frau Nalungia bei der Errichtung eines Schneehauses zu beobachten. Erster Schritt ist das Auffinden einer geeigneten Schneewehe: Bleibt auf dem Schnee nicht einmal ein schwacher Fußabdruck zurück, ist die weiße Masse zum Bau eines Iglus zu hart. Die Güte der Schneewehe wird zusätzlich mit einem unten abgerundeten Stock aus Karibugeweih geprüft: Ist der Schnee nicht gleichmäßig gepackt, fallen die Schneeblöcke auseinander.

Die Blöcke werden mit dem Pana, dem 35 Zentimeter langen Schneemesser aus Horn, vertikal aus der Schneewehe geschnitten. Idealerweise errichten die Eskimo das Iglu direkt über einer Schneewehe, dadurch erübrigen sich die Transportwege, und die Kuppel gewinnt an Höhe. Nach Aufstellen der ersten Reihe gilt es, die Blöcke mit dem Schneemesser mit einem leichten Winkel nach innen anzuschrägen. Das Fundament der Spirale ist fertig. Der Maximaldurchmesser von etwa vier Metern ergibt sich dadurch, dass es nur dann einem Mann möglich ist, den Schlussblock in Position zu heben, ohne erst noch ein Podest aus Schnee bauen zu müssen. Wichtig ist, dass sämtliche Blöcke die gleiche Größe erhalten. Mit Anwachsen der Kuppel bewirft die Eskimofrau die Fugen zwischen den Blöcken mit Pulverschnee. Sie benutzt dazu eine Schneeschaufel (Poalrit) aus Karibugeweih, Seehundleder und Karibusehnen. Der feinkörnige Schnee verschließt jede noch so kleine Ritze zuverlässig.

In Amundsens Bericht ist am Bau des Schneehauses auch der etwa zwölfjährige Sohn der Familie, Errera, beteiligt. Er hilft der Mutter. Der etwa fünfjährige Anni darf unbehelligt weiterspielen. Die Eskimo glaubten an eine unbeschwerte Kindheit: Das Leben, im Winter der Kampf ums Überleben, war anschließend noch schwer genug. Größtes Problem bei der Errichtung eines Schneehauses ist das Einsetzen des Schlussblocks. Er wird hochkant mit einer Hand durch die verbleibende Öffnung geschoben, hochgehalten, mit einigen geschickten Hieben des Pana auf die exakt richtige Größe zuschnitten und fallengelassen.


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mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Holger Wolandt

Holger Wolandt, Jahrgang 1962, ist Autor mehrerer Reiseführer über skandinavische Länder und lebt als Übersetzer in Stockholm.

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Vita Holger Wolandt, Jahrgang 1962, ist Autor mehrerer Reiseführer über skandinavische Länder und lebt als Übersetzer in Stockholm.
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Vita Holger Wolandt, Jahrgang 1962, ist Autor mehrerer Reiseführer über skandinavische Länder und lebt als Übersetzer in Stockholm.
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