In den Wind geschrieben

In der Mündung der Schlei, dem fördeartigen Meeresarm an Schleswig-Holsteins Ostseeküste, liegt die einsame Lotseninsel. Seit Jahren kümmert sich eine Stiftung um den Erhalt des Eilands und vergibt Stipendien für Künstler, die sich von der Stille und

Schleimünde
Nicht schlecht ist an der Küste das Wetter, das Wetter ist schnell.
Die Schlei, ein Fjord, und schnell auch die Drachenboote, die ihn
Befuhren. Gunnar am Bug, puhlt in den Zähnen mit einem Stocher
Vom dreistachligen Stichling. Als erglänzte ein herausgeschnittenes
Wikingerherz: Wenn die Windwatten bei Westwind trockenfallen.

Speisekammer
Hier läufst du dir schwerlich die Patten wund. Dein Radius,
Als wärst du in der Stoßmauser, eine fluglahme Brandgans.
Betreibe also Ohrentauchen, Augenwandern. Lies die Insel
Wie ein Buch mit Gedichten: Von vorn und achtern. Wieder
Zurück. Fang auch in der Mitte an. Ach, große kleine Freiheit !

Hafenmeisterei
Der Wind jagt Schauer über die See. Der Wetterfahnensegler
Blinkt wie ein Wikingerschatz, auch der silberne Waschtisch.
Komm, reich mir deinen Fisch, Hafengeld ist Bringeschuld.
Hannes Schlie, Sohn einer Dalbe, sonnig aufgerichtet an der
Hafeneinfahrt. Eine Wahrheitsstatue, die Freizeichen sendet.

Wäldchen
Ein Schemen, ein Rauch als eingetragenes Schifffahrtszeichen.
Pappelgeschwister, aus einem Stamm geboren, sie wispern und
Wimmern im Wind: Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß.
Nie wirst du dorthin gelangen. Es bleibt Orplid, Eiland deiner
Ahnungslosigkeit. In seinem Wurzelwerk trägt es goldene Eier.

Vogelwarte
Seeadler, Graugans und Hummel. Finken, die der Kartoffelrose
Den zweiten Frühling bescheren. Nicht zuletzt: Anas penelope,
Die Pfeifente, tag- und nachtaktiv. (Warum nicht einfach Nein
Sagen, anstelle dieses Theaters: Weben, Aufrippeln, Weben, Auf-
Rippeln?) Da der Erpel der Eiderente, Pitbull unter den Vögeln.

Giftbude
Die Brandgans legt dem fabelhaften Fuchs die Brut vor die Nase.
Der kann nicht, was er will. Es befällt ihn diese Beißhemmung
Im eigenen Bau. Fast ist’s ein Rätsel, auch ein Gesellschaftsspiel.
Ist der Laden dicht, sind immerhin Fischbrötchen und Lakritz
Im Gepäck. Probier auch die Gischtkronen, das Kiefernrauschen.

Strandgut
Winzig-rotbraunes Vögelchen in einer Pfütze, schaukelnd im Wind.
Löwin, made in China (zu großer Kopf). Tier im Sprung, aus rostigem
Draht geklöppelt. Borstenlose Wurzelbürste. Schild ohne Aufschrift.
Ineinander verknäulte Tampen. Der Name Mary, in Holz geschnitzt.
Zwei Steine: Taube und Pferd, Hommage des Meers an Henry Moore.

Leuchtturm
Teerschrift auf Steinmauer, sonnenweiche Texturen, zurück-
Gelassene Souvenirs. Und der Bogen, den die Mole beschreibt,
Eine kühne These angesichts deiner ständigen Verunsicherung.
Wäre da nicht diese Weisung von höherer Stelle. Dieses Auf-den-
Weg-gebracht-Werden. Drift, der du nicht abhanden kommst.

Lotsenhaus
Einsiedelei in einer unbestimmten Anzahl von Stockwerken,
Kreisrunder Ausblick auf die verwehte See vom Spitzdach aus.
Nicht die wallende Quelle, du bist der Glühdraht des Leuchtens.
Weisheit von Lo-Tse, dem Meeresbürger: Verlasse das Land,
Doch verleugne nie deinen Hafen. Dein Hafen ist dein Ernährer.

mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Mathias Jeschke

Mathias Jeschke, geboren 1963 in Lüneburg, lebt mit seiner Familie in Stuttgart und arbeitet dort als Verlagslektor und freier Autor. Für seine Gedichtbände und Bilderbuchgeschichten erhielt er auch ein Stipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern und den Würth-Literatur-Preis.

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Vita Mathias Jeschke, geboren 1963 in Lüneburg, lebt mit seiner Familie in Stuttgart und arbeitet dort als Verlagslektor und freier Autor. Für seine Gedichtbände und Bilderbuchgeschichten erhielt er auch ein Stipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern und den Würth-Literatur-Preis.
Person Von Mathias Jeschke
Vita Mathias Jeschke, geboren 1963 in Lüneburg, lebt mit seiner Familie in Stuttgart und arbeitet dort als Verlagslektor und freier Autor. Für seine Gedichtbände und Bilderbuchgeschichten erhielt er auch ein Stipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern und den Würth-Literatur-Preis.
Person Von Mathias Jeschke