Im Reich der leisen Rebellin

Die Finnin Tove Jansson erfand mit den Mumins, den nilpferdigen Trollwesen, eine bunte Fantasiewelt für Kinder. Auch die Künstlerin selbst liebte es, sich einen eigenen Kosmos zu erschaffen

„Das ist komisch bei mir“, sagte Sophia. 
„Ich finde, dass schönes Wetter langweilig wird.“ 
„Findest du?“, sagte ihre Großmutter. „Dann bist du genau wie dein Großvater, der mochte auch Stürme.“ 
Tove Jannsson, 
Das Sommerbuch, 1972

Zeit ihres Lebens begeisterte sich Tove Jansson für die Gewalt der Natur. Stürme tauchen oft in den Zeichnungen und Erzählungen der finnischen Künstlerin und Schriftstellerin auf, Zeitungsausschnitte von gigantischen Wellen und kenternden Schiffen zierten die Badezimmertür ihres Ateliers. „Stürme hatten eine beruhigende Wirkung auf sie“, so Janssons Nichte Sophia. „Sie konnte dann loslassen und entspannen, weil Stürme eben mächtiger sind als Menschen.“ In einem von Janssons Kinder­büchern sagt eine Figur, nachdem ihr Haus von einem Tornado weggefegt wurde: „Jetzt werde ich nie wieder Angst haben. Jetzt bin ich frei. Jetzt kann ich alles tun.“ 

Faszinierend ist Janssons Begeisterung für das Berserkerhafte des Meeres besonders angesichts der Gelassenheit und Zärtlichkeit, die weite Teile ihres Werks ausstrahlen. Aber das ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Im Vorwort zur Geschichtensammlung „A Winter Book“ schreibt die schottische Autorin Ali Smith: „Jansson war auf ihre leise Art sowohl formal als auch inhaltlich wirklich radikal.“ Leise und radikal war auch Janssons Lebensstil. Zu einer Zeit, als Homosexualität in Finnland noch verboten war, ging die Künst­lerin offen Beziehungen zu Männern und Frauen ein und erschien zu Preisverleihungen stets in Begleitung ihrer Partnerin Tuulikki Pietilä. 

Ihre Freiräume fand Tove Jansson auf den Schäreninseln im Bottnischen Meerbusen; als „Halbinsulanerin“ bezeichnet die Kunstgeschichtlerin Tuula Karjalainen sie in ihrer Biografie. Schon als Kind verbrachte die 1914 geborene Tochter einer schwedischen Grafikerin und eines finnlandschwedischen Bildhauers ihre Sommer auf dem Pellinge-Archipel im Süden Finnlands. 

Das Inseldasein war ein einfaches, barfüßiges Leben ohne Straßen und Strom, ein Mikrokosmos mit wenigen Akteuren. Familie, Freunde, Steine, Moose und Vögel spielten die zentralen Rollen, die Kinder kletterten auf Felsen und ließen sich von den Wellen wegspülen. Nach­lesen kann man die Erlebnisse der jungen Tove im ersten ihrer Bücher, das sie ausdrücklich für Erwachsene geschrieben hat. Es handelt von einem Mädchen, durch dessen Augen man die Welt so erleben kann, wie das sonst Kinder tun, und ist ein schmales, aber magisches Werk. 

Für die schwedischen und finnischen Leser stellte „Die Tochter des Bildhauers“ 1968 bei Erscheinen eine große Über­raschung dar. Jansson war damals zwar bereits eine Berühmtheit, aber ihr weltweiter Ruhm gründete auf einer Reihe von Kinderbüchern, deren drollige Protagonisten, die Mumins, heute finnische Nationalhelden sind. Jeder kennt die Muminmama, den Schnupferich oder Klein Mü. In ihrer Heimat war Jansson in den 1930ern als Zeichnerin, Malerin und Karikaturistin bekannt geworden. Später schuf sie außerdem monumentale Gemälde für öffentliche Gebäude, Kantinen, Kindergärten. Aber als „ernsthafte“ Literatin war das Multi­talent bis zu ihrem 54. Lebensjahr nicht in Erscheinung getreten.

Janssons Kinder- und Erwachsenen­bücher haben viele Gemeinsamkeiten, und oft lässt sich gar nicht genau sagen, für welche Zielgruppe die Werke geschrieben sind. Zahlreiche Motive treten in beiden Genres auf: das Meer und die Begeisterung für Stürme natürlich, aber auch die fast offensive Thematisierung des Alterungsprozesses und eine Toleranz gegenüber Außenseitern und Sonderlingen. 

Es gehörte zu den Besonderheiten Tove Janssons, dass sie auch ihren jungen Lesern Themen zumutete, die andere geflissentlich ausklammerten. Ihre ulkigen Mumins konnten depressiv und destruktiv sein, sie rauchten und tranken und dachten über große Fragen wie den Tod, Verlassenheit oder persönliche Schuld nach.

Der Ursprung der Mumins, so heißt es, war eine Kritzelei. Als junges Mädchen hatte Tove Jansson sie an die Wand eines Klosetthäuschens gezeichnet. Das Männchen mit der prominenten Nase stellte Immanuel Kant dar. Daneben hatte Jansson geschrieben „Freiheit ist das Beste von allem“. Eine ausgeprägte Freiheitsliebe und Figuren mit großen Nasen sollten die Markenzeichen der schon als Schülerin künstlerisch aktiven Jansson werden. Ihre fantastischen Wesen baute sie als Art zweite Signatur in viele ihrer Werke ein. Selbst dann noch, als sie bereits in Stockholm und Paris studiert hatte und eine anerkannte Malerin und Grafikerin war. 

Janssons junges Künstlerinnenleben wurde bald von den Vorbereitungen zum Winterkrieg 1939 überschattet. Der Zweite Weltkrieg traf Finnland hart. Janssons Bruder und viele ihrer Freunde mussten an die Front, Helsinki wurde mehrfach bombardiert. Im Land herrschten Hunger und Not. Tove Jansson verarbeitete ihren Schmerz und ihre Ängste in einem fantastischen Märchen, das zunächst für meh­rere Jahre in der Schublade verschwand. Man kann „Mumins lange Reise“ (1945) und auch den Folgeband „Komet im Mumintal“ (1946) als Kriegsbücher lesen. Das erste Buch der Serie handelte von einer Trollfamilie, deren Heimat von einer gewaltigen Flut zerstört wird. Die Mumins treiben auf dem offenen Meer, von Abenteuer zu Abenteuer. Am Anfang und am Ende des Buchs stehen jedoch der innere Zusammenhalt der Familie und ihr liebevoller Umgang mitein­ander. 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Gero Günther

Gero Günther war schon ein großer Bewunderer, ehe er sich auf den Spuren von Tove Jansson durch ­Finnland bewegte. Wer es ihm gleichtun will, kann ­Originale ihrer Wandgemälde übrigens im Sommer im ­Rathaus der finnischen Stadt Hamina sehen.

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Vita Gero Günther war schon ein großer Bewunderer, ehe er sich auf den Spuren von Tove Jansson durch ­Finnland bewegte. Wer es ihm gleichtun will, kann ­Originale ihrer Wandgemälde übrigens im Sommer im ­Rathaus der finnischen Stadt Hamina sehen.
Person Von Gero Günther
Vita Gero Günther war schon ein großer Bewunderer, ehe er sich auf den Spuren von Tove Jansson durch ­Finnland bewegte. Wer es ihm gleichtun will, kann ­Originale ihrer Wandgemälde übrigens im Sommer im ­Rathaus der finnischen Stadt Hamina sehen.
Person Von Gero Günther