Hirschgeweih im Fischlokal

Das „Gandori" in Tanger: Trinkende Polizisten, fritierter Kabeljau und eine keifende Neureiche

Warum schreit die Frau bloß so laut? Was will sie? Oder besser, was will sie nicht? Fotografiert werden, das haben bald alle im Lokal verstanden. Es bestand nie die Absicht, sie abzubilden. Um die Räumlichkeiten ging es. Aber auch wenn, was spräche dem entgegen? Ist sie berühmt, ein marokkanischer Filmstar, eine Sängerin, die inkognito essen gehen wollte, eine Angehörige des Königshauses gar?

Abdoul Mrabet, der Wirt, redet auf die erzürnte junge Frau ein, versucht, sie zu beruhigen. Schon vorhin, in der dazugehörigen Bar, sprangen Männer auf, als sie die Kamera nur schon aus der Ferne sahen. Sprengten davon wie Fliegen, die den Wind der nahenden Fliegenklappe fühlen. Ließen ihre Drinks stehen, stapften vor der Tür auf und ab, verunsichert durch eines der vielen Fenster blickend. Einer versuchte sich in einer Erklärung: „Nous sommes agents.“

Polizisten also; staatliche Polizei, während ihrer Arbeitszeit in einer Bar in Tanger sitzend, verbotenerweise Alkohol trinkend, mit geröteten Augenrändern. In einem Lokal, dessen Interieur nicht von dieser Welt zu sein scheint, wenn man mit dieser Welt die nordafrikanische meint. An den Wänden kleben Fototapeten: ein lieblicher Bergbach, holländische Tulpenfelder, ein Tessiner See mit Segelschiffen darauf. Halbnackte Frauen räkeln sich auf dem Bildschirm, der über dem Tresen hängt, tonlos, das Programm ist ein spanischer Werbekanal, da ist der Text nicht wichtig.

„Restaurant Gandori“ steht über der Einfahrt. Das spanisch anmutende Gebäude liegt am Stadtrand von Tanger, direkt am Meer. Am Wochenende kann man hier draußen sitzen und den Kindern zuschauen, wie sie Steine, Muscheln und Glasscherben aus dem Wasser fischen. Gandori war nicht immer ein Restaurant und Abdoul Mrabet nicht immer sein Besitzer. Der fuhr nämlich 15 Jahre lang als Küchenchef auf Kreuzfahrtschiffen um die Welt. Übernommen hat er das Lokal von seinem Vater, Ende der 80er Jahre.

Früher war dies der Club der Spanier. Früher, damit meinen die sentimentalen Tanger-Reisenden die Jahre vor 1956, als die Stadt internationale Zone war, als man Paul und Jane Bowles, Allen Ginsberg und Truman Capote noch auf der Straße treffen konnte, als die Woolworth-Erbin Barbara Hutton ihre berüchtigten Parties veranstaltete und mithalf, das Leben in Tanger zum Mythos werden zu lassen. Der Club der Spanier war berühmt: für sein Spielcasino, seine Tanzveranstaltungen und vor allem für seinen Platz zum Tontaubenschießen. Hier fuhr die Society hin, wenn sie sich amüsieren wollte.

Heute werden die Gäste nicht mehr verwöhnt, aber anständig bedient. Das Essen ist nicht exquisit, aber zuverlässig. Die Warnungen, die allen Marokkoreisenden auf den Weg mitgegeben werden, kein rohes Gemüse zu essen nämlich, bloß kein Fleisch zu verspeisen, am besten eigentlich gar nichts zu sich zu nehmen, um nicht magenkrank zu werden, all die gutgemeinten Ratschläge kann man im „Gandori“ ruhig vergessen: Die Auswahl ist so klein, dass nichts schiefgehen kann. In einer Kühltruhe liegt ein Sortiment frischen Fischs: Kabeljau, Goldbrassen, Sardinen, Langusten, Shrimps, frühmorgens von Abdoul Mrabet in den Markthallen selbst gekauft. Auch wenn über der Auslage ein glotzender Hirschkopf mit einem Geweih von enormen Ausmaßen thront, ist dies kein Hinweis auf Fleischgerichte – die gibt es nicht. Außer sonntags, und auch dann nur im Sommer, da wird im Garten „Barbecue“ veranstaltet. Das Hirschgeweih ist wohl mehr als Spleen des Hausbesitzers zu verstehen. Er hat ein Faible für mitteleuropäische Landschaften samt ihrer Fauna.

Da sitzt man dann also ganz zufrieden in der ehemaligen spanischen Lasterhöhle, blickt auf das Meer, ahnt Spanien, sieht hinter der weißen Stadt die Sonne untergehen und bedauert doch ein wenig, dass die Zeiten, die man aus Büchern kennt, endgültig vergangen sind. Läßt sich vom Chef erzählen, dass die aufgebrachte junge Frau die neureiche Tochter eines zwielichtigen Geschäftmannes aus dem schwerbewachten Villenviertel von Tanger war, auf deren Anwesenheit er sowieso keinen Wert lege. Macht ein letztes Foto von ihm, wie er neben einer Büste seines Königs Hassan II. steht, packt dann die Kamera endlich ein. Und freut sich über die reichhaltige Platte mit fritierten Fischen, Krebsen und Krabben, die mit Pommes, Zitrone und in viel Butter geschwenkten Möhrchenscheiben serviert werden, trinkt dazu einen etwas gewöhnungsbedürftigen, fast sauren, aber eigentlich vorzüglichen marokkanischen roten Beni M’Tir und ist ganz vergnügt, weil sich in der angrenzenden Bar die Stimmung wieder gelockert hat. Wann bietet sich denn sonst die Gelegenheit, mit dienstflüchtigen marokkanischen Polizisten einen Drink zu kippen und dabei im Fernsehen spanischen Schönheiten beim Teppichverkauf zuzuschauen?


„Restaurant Gandori“,
an der Ausfallstraße von Tanger nach Tétuan, hinter dem Club Med links in die Nebenstraße, letztes Haus.
Täglich geöffnet von Mittag bis Mitternacht.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Zora del Buono und Heike Ollertz

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.

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Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Zora del Buono und Heike Ollertz
Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Zora del Buono und Heike Ollertz