Hinreissende Sirenen

Nicht Götter und Gespenster, vielmehr die Frauen domi­nierten die Legenden der Seefahrt. Sie verwirrten die Sinne der Männer an Bord – aus Angst vor der Verführbarkeit durch das Weibliche

Frauen glänzen in der Geschichte der Seefahrt vor allem durch eine jahrtausendelange Abwesenheit. Es gibt auf diesem Planeten keinen anderen Lebensraum, innerhalb dessen Grenzen so lange Zeit auf so viele Männer pro Kopf so wenige Frauen kamen. Ob in der Wüste oder in einsamen Gebirgstälern, Frauen waren überall dabei. Nur auf den Weltmeeren waren die Männer lange unter sich. Die Abwesenheit des weiblichen Geschlechts beschränkte sich jedoch nur auf die fehlende physische Präsenz. Denn es gibt auch keinen Lebensraum, der in der Sprache fast aller Nationen so eindeutig weiblich konnotiert ist wie die See und die Seefahrt. In der Sprache waren die Frauen schon immer dabei.

Das beginnt mit den Schiffen, deren Namen in nahezu allen Sprachen ein weibliches Pronomen vorangestellt ist. Schiffe sind in der Fantasie der Männer weibliche Wesen, mit denen die männlichen Kapitäne eine oft innige und langjährige Beziehung verbindet. „Nein, sie ist nicht alt“, seufzt der Royal-Navy-Kapitän Jack Aubrey stellvertretend für alle in der „Master & Commander“-Verfilmung mit Russell Crowe und ergänzt, „sie ist in den besten Jahren.“ Er meint nicht seine Ehefrau Sophie, sondern das in die Jahre gekommene Schlachtschiff „HMS Surprise“.

Die Gleichsetzung der Transportmittel, mit denen Männer die See befahren, mit den nicht anwesenden Frauen endet nicht bei den Namen der Schiffe, sondern geht viel weiter. Neue Schiffe gehen auf „Jungfernfahrt“, nachdem sie mit einer Flasche Sekt von einer Frau getauft werden. Ihren Bug zierte lange eine barbusige, eindeutig nicht männliche Galionsfigur, die auch nach schwersten Gefechten von der Besatzung liebevoll ausgebessert und gepflegt wurde.

Auch eine erotische Komponente ist unverkennbar im Spiel, wenn man Seefahrerdialoge in literarischen Werken aus verschiedensten Epochen liest, wie Männer das prächtige Heck eines Schiffes beschreiben und die Stärke und Ausdauer ihres Gefährts preisen, die edlen Linien und die genaue Kenntnis der körperlichen Reaktionen, wenn sie mit ihr hart, aber nicht zu hart an den Wind gehen.

Die sprachlich mit sexueller Bedeutung aufgeladene Arbeit in einem denkbar ungünstigen Lebensraum fällt auf. Die Abwesenheit sexueller Optionen haben die Seefahrer ganz offensichtlich über Jahrhunderte mit Stellvertreterobjekten kompensiert. Auch wenn die Frauen nirgends weiter entfernt waren als in einer Nussschale unter Segeln irgendwo auf dem Atlantik, waren sie stets dabei – in den Fantasien der Männer, die ihr Leben den Segeleigenschaften ihrer Gefährte anvertrauten und sich damit in gewisser Weise in einer Art Paarbeziehung den Elementen der Natur stellten.

Es ist jedoch nicht nur das gesellschaftlich bedingte, jahrhundertelange Fehlen aufgrund von Zugangsverweigerung, das die Seefahrt und die See in der kollektiven Fantasie zu einer sprachlich weiblich besetzten Sphäre werden ließ. Psychoanalytische Theoretiker und Literaten haben immer wieder die symbolische Bedeutung der See an sich für die menschliche Existenz herausgearbeitet.

Carl Gustav Jung, der Schweizer Begründer der analytischen Psychologie, sah im Ozean den „Mutterschoß der Natur“, jenen Ort, an dem die Evolution und der erste Keim des Lebens begannen. Sein österreichischer Freund und späterer Gegenspieler Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, wie immer seiner alles auf die Sexualität reduzierenden Symbolik verhaftet, spricht im Zusammenhang mit dem Meer von Fruchtwasser und Assoziationen zur eigenen Geburt, die es bei den Menschen auslöse.

Die Männer, die jahrhundertelang die Ozeane weitgehend ohne Frauen befuhren, durchlebten in ihrer Psyche, folgte man den Psychoanalytikern, eine Rückkehr zu ihren eigenen Ursprüngen in der Mutter Natur. Sie befahren die Gewässer, aus denen sie kommen. Unendliche Weiten, die sie zugleich anziehen wie auch erschrecken, die sie mit ihren Schiffen durchschneiden und beherrschen; und zugleich verlieren sie immer wieder den Kampf gegen die weibliche See, weil sie sich zu weit hinaus gewagt haben. Oder weil sie von weiblichen Traumgestalten angezogen werden.


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mare No. 111

No. 111August / September 2015

Von Alexander Kohlmann

Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er unter anderem über den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91), über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99) und die soziale Aktualität von Stevensons „Schatzinsel“ (No. 102).

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Vita Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er unter anderem über den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91), über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99) und die soziale Aktualität von Stevensons „Schatzinsel“ (No. 102).
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Die Jagd nach literarischen und theatralen Schätzen treibt auch Alexander Kohlmann um. Der in Hamburg lebende Kulturjournalist und Dramaturg studierte Medienwissenschaft, Geschichte und Theaterregie in Berlin und Hamburg. Für mare schrieb er unter anderem über den Mythos des Untergangs der „Titanic“ (No. 91), über die Kulturgeschichte des Geisterschiffs (No. 99) und die soziale Aktualität von Stevensons „Schatzinsel“ (No. 102).
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