Hier zählt, wer bleibt

An Nordspaniens Küste liegt, malerisch in Salzmarschen gebettet, ein Gefängnis, dessen Insassen sich eine einzigartige Aufgabe gestellt haben. Ihre Arbeit nützt vor allem der Ornithologie

Drei Männer stehen im Regen. Sie schauen in die Ferne. Sie heißen Nacho, Manuel und Iñaki, ihre Nachnamen wollen sie nicht in einer Zeitschrift lesen. Nacho blickt durch ein Fernglas, das auf ein Stativ montiert ist. Er sieht Weiden, kahle, zurechtgestutzte Platanen, einen kleinen Turm, dahinter eine graue Mauer. Noch weiter entfernt schimmern riesige Pfützen. Darin sieht Nacho kleine, dunkle Inseln aus Schilf, darauf große, weiße Vögel.

„Schreib auf: drei“, sagt Nacho zu Manuel, der neben ihm steht, mit Regenhut und wasserdichter Jacke. Manuel hält in der Hand ein Klemmbrett mit einem Papier darauf, das gerade nass wird. „Nein, warte! Vier.“ „Was nun?“, fragt Manuel. „Wir haben noch 20 Minuten. Du musst nicht sofort sagen, wie viele du siehst“, sagt Iñaki zu Nacho. Der schweigt und schaut wieder durch die Gläser. Nach einer Weile tritt er zurück und sagt zu den beiden: „Mir reicht’s, ich seh da nichts.“ Dann wendet er sich ab, holt einen Feldstecher aus dem Rucksack und blickt damit in die andere Richtung, nach Norden, zum Atlantik.

Nacho, Manuel und Iñaki sind Häftlinge in Spaniens einzigem Gefängnis mit Meerblick. Der „Penal de El Dueso“ liegt an der Nordküste des Landes, zwischen Bilbao und Santander, inmitten eines Vogelschutzgebiets und nur ein paar hundert Meter vom Strand entfernt. Es ist gebaut auf den Ausläufern einer bergigen Landzunge, zwischen Meer und brackigen Marschen, wo im Frühjahr Zugvögel rasten, darunter auch große Löffelreiher. Sie fressen sich dort auf ihrer langen Reise von Mauretanien zu den Westfriesischen Inseln satt, 350 Meter jenseits der Gefängnismauer. Ihre Nachbarn diesseits beobachten sie dabei seit über zehn Jahren. Sie notieren, jeden Morgen für eineinhalb Stunden, wie viele der langbeinigen Zugvögel durchs Seichte staksen. Die Daten geben sie an den spanischen Vogelschutzverband SEO/Birdlife weiter, der sie zu Langzeitstudien über die dortige Löffelreihergruppe nutzt.

Die schlanken, weißen Vögel mit den langen Schnäbeln, die an Schuhlöffel erinnern, tauchen von Ende Januar an am Himmel über dem Gefängnis auf. Bis Ende April rasten die fast einen Meter großen Tiere dann auf den Schilfinseln und stelzen durch das seichte, brackige Wasser um das Gefängnis. Die einzigen Daten, die die Häftlinge liefern müssen, ist die Zahl der gesichteten Löffler je Tag. Damit die Angaben zuverlässig sind, werden Grüppchen aus zwei oder drei Häftlingen gebildet, mindestens einer von ihnen verfügt über Erfahrung. Das Zählen beringter Tiere übernehmen Mitarbeiter von SEO/Birdlife an ihrem Standort jenseits des Marschlands. „Die Zahlen aus El Dueso sind unsere Grundlage“, sagt Juan Gómez Navedo, der zuständige SEO/Birdlife-Mitarbeiter, „die Feinarbeit machen wir dann.“

Das Löffelreiherprogramm wurde mittlerweile mehrmals prämiert, unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation. Und es hat den Vogelschützern einige wichtige Erkenntnisse gebracht: Die Zahl der Löffelreiher ist seit 2003 leicht gestiegen. Nicht alle Vögel wollen zu den Westfriesischen Inseln, ein Teil steuert auch Nordfrankreich an. Je älter und erfahrener die Vögel sind, desto kürzer rasten sie, weil ihr Energieverbrauch offenbar geringer ist. Die Jungvögel, die ihre erste Fernreise unternehmen, bleiben mehrere Wochen hier, um sich von den Strapazen zu erholen.

Rund 120 Vogelarten rasten und fressen in den Marschen. Das macht das Feuchtgebiet vor den Toren des Gefängnisses so einzigartig an der Biskaya. Während die Löffler zweimal im Jahr jeweils mehr als 5000 Kilometer weit fliegen und zwischendurch in El Dueso haltmachen, ist die Welt der Vogelbeobachter nur drei Hektar klein. Eine Welt, die Manuel liebevoll als „zweites Zuhause“ bezeichnet. Er arbeitete bis zum Sommer 2010 als Yachtkapitän in Marbella. Mehrmals überquerte er den Atlantik und schmuggelte dabei Drogen. Seit 1996 ist er immer wieder inhaftiert, diesmal für zehn Jahre. Vor Kurzem beantragte er die Verlegung nach El Dueso. „Normalerweise siehst du im Knast nichts, nur Mauern, Gänge und Gitter, vielleicht einmal ein Stück Himmel. Hier ist das anders.“

Nicht nur der Himmel ist hier größer, auch das Personal sei freundlicher, erzählt Manuel. Andere sagen, das Essen sei sehr gut, wieder andere, es herrsche ein gutes soziales Klima, viele loben, man könne jederzeit ins Fitnessstudio und im Sommer sich sogar draußen sonnen. Der Gefängnisdirektor, Carlos Fonfría, ein ehemaliger Grundschullehrer aus dem benachbarten Städtchen Santoña, der seit mehr als 30 Jahren im Gefängnis arbeitet und hier schon alle Jobs gemacht hat, vom einfachen Wärter bis zum Koordinator der Resozialisierungsprogramme, sagt: „Das Meer beruhigt uns alle.“


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mare No. 97

No. 97April / Mai 2013

Von Brigitte Kramer und Juan Manuel Castro Prieto

Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, freie Journalistin in Spanien, tat für die Recherche zwei Dinge zum ersten Mal: Sie betrat ein Gefängnis, und sie gab ein Interview, und zwar den Häftlingen vom Gefängnisradio. Eine ergreifende Erfahrung.

Juan Manuel Castro Prieto, 1958 geboren, Fotograf in Madrid und vertreten durch die Agence VU, mochte die Häftlinge, die er fotografierte. „Es sind Leute, die auch Freunde von mir sein könnten.“ Jeder Mensch, so Castro Prieto, verdiene eine zweite Chance im Leben.

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Vita Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, freie Journalistin in Spanien, tat für die Recherche zwei Dinge zum ersten Mal: Sie betrat ein Gefängnis, und sie gab ein Interview, und zwar den Häftlingen vom Gefängnisradio. Eine ergreifende Erfahrung.

Juan Manuel Castro Prieto, 1958 geboren, Fotograf in Madrid und vertreten durch die Agence VU, mochte die Häftlinge, die er fotografierte. „Es sind Leute, die auch Freunde von mir sein könnten.“ Jeder Mensch, so Castro Prieto, verdiene eine zweite Chance im Leben.
Person Von Brigitte Kramer und Juan Manuel Castro Prieto
Vita Brigitte Kramer, Jahrgang 1967, freie Journalistin in Spanien, tat für die Recherche zwei Dinge zum ersten Mal: Sie betrat ein Gefängnis, und sie gab ein Interview, und zwar den Häftlingen vom Gefängnisradio. Eine ergreifende Erfahrung.

Juan Manuel Castro Prieto, 1958 geboren, Fotograf in Madrid und vertreten durch die Agence VU, mochte die Häftlinge, die er fotografierte. „Es sind Leute, die auch Freunde von mir sein könnten.“ Jeder Mensch, so Castro Prieto, verdiene eine zweite Chance im Leben.
Person Von Brigitte Kramer und Juan Manuel Castro Prieto