Heiligen-Schein

Bei der Figur des heiligen Michael, der seit ewig den Turm der Abteikirche von Mont-Saint-Michel krönt, ist der Lack ab. Das neue Blattgold für die glänzende Restaurierung kommt aus Franken

Der Wind zerrt an den Haaren, der Hose, dem Hemd. 45 Stundenkilometer, mutmaßt der diensthabende Angestellte hinter dem Informationsschalter und hält den Daumen in die Höhe. „Windstärke sechs, das ist harmlos für unsere Verhältnisse. Das Anemometer holen wir nur heraus, wenn wir entscheiden müssen, ob wir die Terrasse schließen.“

Kein Grund zur Besorgnis an diesem Vormittag auf der Westterrasse vor der berühmten Benediktinerabtei des Mont-Saint-Michel in der Normandie. Zumindest nicht für die Besucher. Die Terrasse ist ihr beliebtestes Ziel. Viele klimmen weniger aus religiösen Gründen als wegen der Aussicht die Stufen bis auf 80 Meter über dem Meeresspiegel empor: Vor ihnen liegen 500 imposante Quadratkilometer Bucht, aus der sich das Meer über Nacht zurückgezogen hat und in den nächsten Stunden erst in Rinnsalen und dann immer breiter werdenden Kanälen zurückfließt.

Heute ist laut Gezeitenkalender keiner der Tage, an dem das Wasser die Insel vollständig umschließen wird. Deshalb sind ein paar Wagemutige barfuß draußen im Watt unterwegs, um einmal bis zu den Knien im Treibsand zu versinken. Einige der größten Hoffnungen des Trabrennsports graben ihre Hufe in den Schlick, Möwen segeln im Aufwind. Drüben an Land, jenseits der Stelzenbrücke, über die Touristen jedes Jahr in Scharen ankommen, zu Fuß, im Elektrobus oder in Pferdedroschken, grasen in den Salzwiesen Herden jener Lämmer mit den dunklen Gesichtern und schwarzen Beinen, die später als Grévins auf die Speisekarte gelangen.

Legt man auf der Terrasse den Kopf zurück in den Nacken, reicht der Blick weitere 80 Meter nach oben, wo an der Turmspitze die goldene Statue des Erzengels Michael mit erhobenem Schwert wacht. Seit 1897. Zu seinen Füßen, gebändigt, das Böse in Gestalt eines Drachens. Da oben hat es Windstärke 7. An Land würde das bedeuten, dass Bäume schwanken und die Wetterstationen anfangen, Warnungen auszusprechen. Welche Kräfte müssen erst wirken, wenn Herbst- und Winterstürme über die Bucht fegen, nicht nur feine Salzkristalle an dem goldenen Kleid nagen, sondern neben Hagelkörnern auch Sand und winzige, messerscharfe Partikel von Muschelschalen es schleifen? Von Blitzeinschlägen nicht zu reden.

„Er war fast nackt“, erinnert sich Lucie Gohard an ihre erste Begegnung mit dem Erzengel vor ein paar Monaten. Von den Naturgewalten entkleidet bis auf die blassgrüne Grundlasur. „Erbarmungswürdig.“ Die Pariserin, 26 Jahre ist sie alt, hat sich für ihre Hochzeitsreise eine Station zu Füßen des heiligen Michael gewünscht. Jetzt, wo er im neuen goldenen Gewand wieder Richtung Festland blickt. „Ich kenne jeden Zentimeter von ihm. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er auf mich besonders aufpassen wird“, sagt sie. Denn Lucie Gohard ist die Vergolderin, die ihn wetterfest gemacht hat.

Als er im Frühjahr so geschunden vor ihr, ihrem Vater Fabrice und Bruder Baptiste in ihrem Pariser Atelier liegt, 4,5 Meter lang von der Sohle bis zu den Flügelspitzen, treffen sie eine Entscheidung, die sie nicht mit der Auftraggeberin, der Denkmalschutzbehörde, abgesprochen haben. Wenn die neue Vergoldung den extremen Bedingungen trotzen soll, wird das „normale“ Blattgold, das sie zum Beispiel für das Goldene Tor vor dem Versailler Schloss verwendet haben, nicht reichen.

Noch lebhaft sind die Bilder in Erinnerung, wie die demontierte Statue an Seilen schaukelnd wie bei einer Bergrettung per Helikopter ans Festland gebracht wird. Mehrmals muss die Aktion abgebrochen werden, weil der Wind zu stark bläst. Die nächste Bergung dieser Art wollen die Gohards so weit wie möglich in die Zukunft verschieben. Für den Erzengel kommt deshalb nur das Beste infrage. 23,5 Karat, das ist fast reines Gold mit einer Prise Silber und Kupfer, um die Abriebfestigkeit zu erhöhen. Und statt der in der Ausschreibung veranschlagten 23 Gramm je 1000 Blatt sollen es 32 Gramm sein. Vater Fabrice erinnert sich, dass er 1985 für die Flamme der amerikanischen Freiheitsstatue so ein widerstandsfähiges Blattgold verwendet hat. „Sie glänzt immer noch so schön wie damals“, sagt er.

Die Entscheidung wird folgenreich sein, aber nun wird bestellt. 128 Gramm Blattgold statt der ursprünglich geplanten 92 Gramm. 4000 Blatt brauchen die Gohards. Acht mal acht Zentimeter groß. Der Auftrag geht, wie seit Jahrzehnten, nach Schwabach. Hier in der bayerischen Kleinstadt bei Nürnberg, fast 1000 Kilometer Luftlinie von Mont-Saint-Michel entfernt, ist die Goldschlägerei Noris zu Hause. Sie ist eine der letzten ihrer Art weltweit. Und mit Dieter Drotleff macht sich der älteste noch aktive Goldschlägermeister ans Werk.

Der 64-Jährige mit der kräftigen Statur öffnet einen Tresor mit dem Wappen einer Firma, die nicht mehr herstellt. Die Ostertag-Werke in Aalen haben ihn gefertigt. Vor mehr als 100 Jahren. „Undurchbohrbar“ ist darauf vermerkt. Darin stehen verbeulte Keksdosen von historischem Wert. Aus solchen mit dem Aufdruck „Floridia Wafer Rolls“, die Mittvierziger aus den Eisbechern ihrer Kindheit kennen, kippt Drotleff Granulat in einen Tiegel. Dann stellt er rund 30 000 Euro in den Schmelzofen, ein Kilogramm Gold, 23,5 Karat.


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mare No. 128

Juni / Juli 2018

Von Karin Finkenzeller

Karin Finkenzeller schreibt oft über Frankreich und die nicht immer reibungslose deutsch-französische Kooperation. Wie faszinierend diese Teamarbeit aber sein kann, hat sie bei der Recherche für diese Geschichte erlebt – und nebenbei eine Entdeckung in ihrer bayerischen Heimat gemacht. Die Autorin stammt aus Ingolstadt, eine gute Autostunde von den Goldschlägern entfernt. Aber nach Schwabach kam sie zum sersten Mal auf dem Umweg über die Normandie.

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Vita Karin Finkenzeller schreibt oft über Frankreich und die nicht immer reibungslose deutsch-französische Kooperation. Wie faszinierend diese Teamarbeit aber sein kann, hat sie bei der Recherche für diese Geschichte erlebt – und nebenbei eine Entdeckung in ihrer bayerischen Heimat gemacht. Die Autorin stammt aus Ingolstadt, eine gute Autostunde von den Goldschlägern entfernt. Aber nach Schwabach kam sie zum sersten Mal auf dem Umweg über die Normandie.
Person Von Karin Finkenzeller
Vita Karin Finkenzeller schreibt oft über Frankreich und die nicht immer reibungslose deutsch-französische Kooperation. Wie faszinierend diese Teamarbeit aber sein kann, hat sie bei der Recherche für diese Geschichte erlebt – und nebenbei eine Entdeckung in ihrer bayerischen Heimat gemacht. Die Autorin stammt aus Ingolstadt, eine gute Autostunde von den Goldschlägern entfernt. Aber nach Schwabach kam sie zum sersten Mal auf dem Umweg über die Normandie.
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