Grün-Gefroren

Das Glück eines Fünfjährigen am Strand von Italien

Irgendwo zwischen dem köstlichen Geglitzer der Adria und einer 100-Lire-Münze lag in den frühen Sechzigern das Reich der Erfrischung. Ein magisches Ziel. Irgendwo da vorn mußte es sein, wo der Gelati-Mann mit seinem bemalten Holzkasten in der Mittagsglut durch die anstrengenden Sandkuhlen watete. Wenn er bloß nicht entwischte! Derweil hielten fünf Fingerchen die verheißungsvolle Silberscheibe umklammert, so italienisch anders wie die war.

Glatter als zu Hause die Fuffziger und mit ’ner Göttin drauf oder sowas. Sich im Laufschritt nochmal und nochmal der 100 Lire vergewissern. Gleich, wenn das Ringelhemd des Gelati-Manns in Sicht kam, würden sich die 100 Lire verwandeln. Schon nahm die meersalzige Zunge den Geschmack von Gefrorenem vorweg, ahnte der Gaumen das eisige Knirschen. Welche Möglichkeiten im schnurgraden Faltengewand der Göttin schlummerten… 100 Lire! Staunenswerte Silbergröße, die das wichtigste Begehren der Welt einzulösen vermochte. Von der Oma war die Münze, und es gab Wassereis dafür, herrliches Wassereis, am besten grün. Nicht Waldmeister, oh nein, richtig grünes Pfefferminz-Wassereis, süß und kühl und ein bisschen scharf wie Menthol.

Der spacke Leib keuchte über den viel zu heißen Sand. Jedesmal beim Auftreten gab der Boden nach, knapste von jedem hart erkämpften Schritt wieder ein Stückchen ab. Die flatternde San-Pellegrino-Werbung des Fliegers oben am Himmel interessierte jetzt gar nicht. Bloß vorwärts, in atemlosem Zickzack durch Kofferradios und Stoffluftmatratzen pesen. Hastig, ja gierig vielleicht. Da: der Gelati-Mann. Seine fast schwarzen Waden so dunkel wie das Klavier zu Haus’ – solche Bräune würde man selber nie schaffen, niemals.

Wie immer klappte alles ohne Worte, ohne „Pfefferminz-Wassereis“ auf italienisch. Einfach die Hand ins frostige Dunkel der Eisbox stecken und rasch das grüne Wassereis in der Papierhülle herausgezogen, bevor sich der Deckel wieder schloss. Die 100 Lire hinhalten. „Mille grazie, bambino!“ Geschafft. In der einen Faust das Wechselgeld, in der anderen Faust den platten Holz-Eisstiel. Und zurück über glühenden Sand, durch die ewigen Liegestuhlreihen. Wie gut das Springen von Schatteninsel zu Schatteninsel den brennenden Fußsohlen tat.

Aber eigentlich ließ einen die „Zwei-Stunden-Kühle“ noch immer bibbern. Tief eingenistet in den Gliedern: ein anfänglich pup-laues Meer, vom spaßigen Rein und Raus und Rein jedoch unmerklich kalt geworden, das in den Rippen bleiern nachsummte, während oben auf der Haut die Sonne bereits böse zukniff. Nur das immerfort nasse Helanca der Badehose erinnerte daran, dass endgültig Zeit zum „Rauskommen“ war. Erst wenn das weinrot-weiß-blau gestreifte Ungetüm wie ein besiegter Scheuerlappen in den Sand plumpste, wurde aus dem geschrumpften Zipfelchen sachte, ganz sachte wieder ein echter Zipfel. Fürsorglich eingehüllt ins vertraute Handtuch mit den Girlandenmustern, begann jetzt der schönste Teil des Rituals. Das verträumte Auszutschen von Pfefferminz-Wassereis.

Die Augen zusammengekniffen vom Meeresblitzen, den schrägen Kopf am schräg gehaltenen Eis, stets im tranigen Wettlauf mit der klebrigen Schmelze, die am Stiel vorbei in den Sand tropfte. Winzige, machtlose Wassereis-Tropfen in einer unersättlichen Sahara aus Adriastrand. Das Pfefferminz verschmolz mit der Sonnenschirmwelt. Mit dem Geruch von Tiroler Nußöl und Niveacreme. Im Wind vibrierten blonde Gänsehaut-Härchen auf dem bestaunten Braun der Armbeuge, innig-erschöpfte Selbstbetrachtung eines Frotteehöhlen-Bewohners. Spitze Schreie stachen manchmal hervor aus dem einlullenden Mischmasch von Strandgelächter und Wellengemurmel. Und von weit hinten wehte das schnulzige „Marina, Marina, Mariiina“ herbei, ungeschlagener Gassenhauer längs der Palmenpromenaden von Rimini, von Cattólica.

Verknotet am Sonnendachpfosten zuckte und zerrte beruhigend der Drachen an seiner Schnur. Wann je wieder sollte die Freundlichkeit der Dinge einen derart perfekten Minzegeschmack haben?

Allerhöchstens noch einmal später nachmittags. Nur zweimal täglich Wassereis gestattete die eiserne Ration, die den Tag einteilte. Trotz quengeliger Proteste. Denn zu Wirtschaftswunderzeiten war selbst für die Gäste einer Pension „Hollywood“ das Lire-Budget begrenzt. Während die Mittelmeerkühle in den Knochen warmschrumpfte, machte sich im Mund scharfkalte Süße breit. Das eisgezuckerte Dösen begann. Träumerisch wanderten die Gedanken hinüber zum Modderstreifen direkt am Wasser, träufelten abermals Eierpampe zu Burgtürmen auf. Doch vom Saugen und Schlürfen wurde das krachend grüne Eis blass und blässer. Und je dünner das Pfefferminzgrün, desto unbarmherziger trat glasigkalte Neutralität hervor. Seltsam, dieser schläfrige Ehrgeiz von damals, grünes Wassereis komplett farblos zu zutschen. Ja, damals existierte das Glück in der Ausschließlichkeit dieses kleinen Rituals. Alle Erwartung, alle Erfüllung lag in diesem grünen Pfefferminz-Wassereis am Meer. Und das sollte für immer so bleiben. Denn 14 Urlaubstage waren eine Ewigkeit, damals.

mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Thomas Worm

Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist Journalist. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren begeisterte er sich für Meer und Eis. Heute ist er mare-Redakteur für die Ressorts Wirtschaft und Politik und immer noch auf der Suche nach grünem Wassereis.

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist Journalist. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren begeisterte er sich für Meer und Eis. Heute ist er mare-Redakteur für die Ressorts Wirtschaft und Politik und immer noch auf der Suche nach grünem Wassereis.
Person Von Thomas Worm
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist Journalist. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren begeisterte er sich für Meer und Eis. Heute ist er mare-Redakteur für die Ressorts Wirtschaft und Politik und immer noch auf der Suche nach grünem Wassereis.
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