Große Hoffnung auf kleiner Insel

Erbliches Asthma auf Tristan da Cunha zieht Forscher an

Es war der 29. September 1993, am frühen Morgen, als am Horizont die „MS Agulhas“ auftauchte, ein Forschungsschiff unter südafrikanischer Flagge. Das Schiff war über 1500 Seemeilen, von Kapstadt her, durch schwere See gestampft. Die Hafenwache von Tristan da Cunha schickte die Langboote hinaus, um die Gäste abzuholen: den Asthmaforscher Noé Zamel von der Universität Toronto und seine Assistentin Patricia McClean.

Zwei Jahre lang hatten beide Forscher die Bewohner von Tristan da Cunha zäh bearbeitet, um ihr Einverständnis für ein bahnbrechendes Forschungsprojekt zu erhalten. Viel Skepsis war zu überwinden. Jetzt waren sie da, standen unten am Strand vor dem Schild „Welcome to the remotest island“, willkommen auf der entlegensten Insel der Welt.

Noé Zamel und Patricia McClean entluden ein mobiles Laboratorium, Kühlboxen und Fragebogen und machten sich unverzüglich an die Arbeit. In den drei Wochen ihres Aufenthaltes nahmen sie sich einen Inselbewohner nach dem anderen vor, ganz systematisch: Sie ließen sie in ein computergesteuertes Messgerät zur Feststellung der bronchialen Verengung pusten, als nächstes holten sie detaillierte Auskünfte zur Familiengeschichte und zum Stammbaum ein, weiter ging es mit Allergietests. Schließlich, am 20. Oktober, mussten alle antreten zur Blutentnahme, ein heikler Vorgang. Denn das Blut der Inselbewohner war das Material für spätere genetische Tests. Mit ihnen wollten die Forscher feststellen, wie sich die Tristan-Krankheit Asthma von Generation zu Generation fortpflanzt.

Von den 301 Bewohnern von Tristan da Cunha beteiligten sich 282. Erwachsene erhielten umgerechnet 30 Mark Aufwandsentschädigung, Kinder 18 Mark, es gab Fähnchen und Käppis für alle. Und am letzten Tag, als die Blutproben und das ganze Material per Helikopter auf die „MS Agulhas“ verfrachtet war, schmissen Noé Zamel und Patricia McClean in der „Prince Philipp Hall“ eine Party, zum Dank.

Es war kein endgültiger Abschied. Und niemand auf der einsamen Insel wunderte sich, als Noé Zamel drei Jahre später einen weiteren Besuch ankündigte. Denn die Insel Tristan da Cunha, kaum zehn Kilometer im Durchmesser, ungefähr auf halbem Weg zwischen Kapstadt und Buenos Aires mitten im südlichen Atlantik gelegen, wird von der Wissenschaft immer wieder aufs Neue entdeckt, mit immer wieder neuen Absichten. Einmal waren es Vulkanologen, die den 2010 Meter hohen, schneebedeckten Vulkan in der Mitte der Insel erforschen wollten, ein andermal kamen Ornithologen, die sich für die seltenen Vögel begeistern ließen.

Selbstverständlich tauchten in den dreißiger Jahren die Rassenforscher auf und wollten wissen, ob die Inselbewohner, die nach 1811 allmählich aus England, den USA sowie Italien eingewandert waren und sich mit Mulatten aus Südafrika vermischt hatten, in irgendeiner Weise „minderwertig“ seien. Und als 1961 die gesamte Einwohnerschaft nach England, dem Mutterland, evakuiert wurde, weil der Vulkan wieder Asche und Feuer spie, ergriffen die Wissenschaftler die Gelegenheit und fertigten nicht weniger als 66 Studien über die Umsiedler an. Die Themen reichten von der Entwicklung ihrer physischen Konstitution über ihren eigentümlichen, georgianisch geprägten Dialekt bis zu den Ernährungsgewohnheiten.

Die Bewohner von Tristan da Cunha sind es gewohnt, dass man sich für ihr einsames Leben interessiert. Aber nichts ist ihnen unangenehmer, als wenn man sie auf ihre Krankheit anspricht: das Asthma.

Ein Missionar war es, der das häufige Vorkommen dieses Leidens im Jahre 1910 erstmals beschrieb. Seither erschien eine Studie nach der anderen über die „Asthma-Insel“. Alle ergaben, dass etwa ein Viertel der Bewohner unter schwerem Asthma leide, ein Drittel zeige Anzeichen von mittlerem Asthma, der Rest sei beschwerdefrei. Und die Autoren beinahe aller einschlägigen Arbeiten gehen davon aus, dass die Krankheit zurückzuverfolgen sei bis auf den schottischen Korporal William Glass, den eigentlichen Gründer der Kolonie, der 1816 auf die Insel kam. William Glass sei Asthmatiker gewesen, er habe das „Asthma-Gen“ auf seine Kinder übertragen, und mangels „neuem Blut“ sei das „Asthma-Gen“ über die Generationen hinweg gewissermaßen in konzentrierter Form weitergegeben worden. Das Wort „Inzucht“ taucht in allen Forschungsarbeiten auf. Jede Frage nach dem Thema „Asthma“ berührt also direkt dieses heikle Thema, über das auf der Insel niemand ohne weiteres reden möchte.

Für den Asthmaspezialisten Zamel aber boten gerade die isolierte Lage der Insel und die Möglichkeit, lückenlose Stammbäume zu erstellen, immense Vorteile. So wie andere Genetiker, die seit etwa zehn Jahren als „Gen-Jäger“ die entlegensten Winkel der Welt aufsuchen, um an Populationen mit ausgeprägten Krankheiten heranzukommen, erkannte Noé Zamel sofort: Tristan da Cunha ist genau das geeignete kleine, überschaubare Laboratorium, das seine Forschungen entscheidend voranbringen könnte.

Doch für das Laboratorium interessierten sich auch andere. Bei seinem zweiten Besuch, im September 1996, erschien Zamel in Begleitung einer Wissenschaftlerin von Sequana Therapeutics, einer aufstrebenden Biotech- Firma im kalifornischen La Jolla. Sequana profilierte sich seit ihrer Gründung 1990 im „gene hunting“, der Jagd auf krankheitsmachende Gene. Die Firma hatte früh das Potenzial einer schrittweisen Entschlüsselung des menschlichen Genoms erkannt: dass irgendwo ein paar Gene entdeckt werden könnten, die für die Entstehung einer bestimmten Krankheit verantwortlich wären. Wer dieses Gen in den Händen hält, so sagten sich die Manager von Sequana im Wettlauf mit anderen Kollegen aus der Branche, hat das sensationelle, Gewinn bringende Medikament bald schon auf dem Markt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 19. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Christoph Keller

Christoph Keller, Jahrgang 1959, ist Radioredakteur, Autor und Mitarbeiter des Magazin, das dem Tages-Anzeiger in Zürich beigelegt ist. Dort veröffentlichte er kürzlich einen Report über die genetische Bestandsaufnahme der Gesamtbevölkerung Islands

Mehr Informationen
Vita Christoph Keller, Jahrgang 1959, ist Radioredakteur, Autor und Mitarbeiter des Magazin, das dem Tages-Anzeiger in Zürich beigelegt ist. Dort veröffentlichte er kürzlich einen Report über die genetische Bestandsaufnahme der Gesamtbevölkerung Islands
Person Von Christoph Keller
Vita Christoph Keller, Jahrgang 1959, ist Radioredakteur, Autor und Mitarbeiter des Magazin, das dem Tages-Anzeiger in Zürich beigelegt ist. Dort veröffentlichte er kürzlich einen Report über die genetische Bestandsaufnahme der Gesamtbevölkerung Islands
Person Von Christoph Keller