Mitte Juli 1923 sticht das Passagierschiff „Hansa“ von Hamburg aus zu einer Linienfahrt nach New York in See. An Bord: 923 Passagiere, darunter 522 Auswanderer und ein Geheimprojekt.
Denn noch bevor die Passagiere das Schiff betreten durften, wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion allerlei Gerätschaften an Bord gebracht: Reagenzgläser, Chemikalien, Säcke voll Sand und eine Apparatur aus Röhren und Pumpen. Utensilien für ein mobiles Labor im Bauch des Schiffes.
Höchste Geheimhaltung ist angesagt – schließlich steht der Kriegsverlierer Deutschland noch unter Kontrolle der Alliierten. Deshalb wird das Laborpersonal als Besatzung getarnt: Kellner, Tellerwäscher, Zahlmeisterassistenten.
Doch da die Wissenschaftler kein Loch in die untere Bordwand schneiden können, führt das System von Rohren und Pumpen für jedermann sichtbar über die Gangway, die äußere Bordwand hinab unter die Wasserlinie.
Kaum hat der Ozeandampfer das offene Meer erreicht, gluckert es in den Rohren, und die Motoren knattern. Unter den Passagieren wird viel geredet, Gerüchte kommen auf. Auf Wunsch der Wissenschaftler beteiligen sich auch die Schiffsoffiziere an den Spekulationen und legen falsche Fährten. Nach Ankunft in New York schreibt eine Zeitung: „German scientists see way to drive ships by using mysterious force.“ Mannschaft und Passagiere werden intensiv von den Reportern befragt, einer weiß von einem belauschten Gespräch zu berichten: Wenn die Experimente gelängen, müßten alle bisherigen Schiffsmotoren verschrottet werden.
Auch der Hafenbehörde fällt bei der Aushändigung der Landungskarten die viel zu zahlreiche Mannschaft auf. „Warum haben Sie denn so viele Zahlmeister?“ fragt ein Reporter den eigentlich überflüssigen stellvertretenden Kassenchef.
Zu diesem Zeitpunkt hat die Nachkriegs-Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht: Ein Dollar entspricht dem Wert von 4,2 Billionen Reichsmark. Der Heizwert eines Bündels Papiergeld ist höher als der der Kohlen, die man dafür kaufen kann. Deshalb antwortet der Gefragte: „Es ist wegen der vielen Nullen!“
Wir wissen nicht, ob der Reporter sich durch diese Antwort verschaukelt fühlte, aber mit Sicherheit ahnte er nicht, wie nahe er in diesem Moment an der Story seines Lebens war.
Wäre er nur etwas vertraut mit der europäischen Zeitgeschichte gewesen, mit den Konterfeis der Kriegsverbrecher des Weltkrieges oder den ausgezeichneten Wissenschaftlern – er hätte diesen Mann mit kahlem Haupt, intelligenten Augen und sehr energischem Auftreten erkennen müssen: Es war niemand anderes als der Chemiker, Giftgasforscher und Nobelpreisträger Fritz Haber – der Mann, der 1918 als Kriegsverbrecher gesucht worden war, weil er das Senfgas entwickelt und seinen Einsatz in den Schützengräben persönlich geleitet hatte.
Der Mann, der dann 1920 überraschend – gegen den heftigsten Protest aus Frankreich und England – den Nobelpreis für sein vor dem Krieg entwickeltes Verfahren zur Stickstoff-Gewinnung erhalten hatte.
Was trieb jedoch ausgerechnet Fritz Haber, den Chemiker und eingeschworenen Festländer dazu, sein sicheres Forschungsinstitut in Berlin gegen ein mobiles Westentaschenlabor auf dem Ozean zu vertauschen?
Es waren ein paar Zahlen, die er gelesen hatte – Untersuchungsergebnisse: Milligramme, ja teilweise nur Bruchteile von Milligrammen eines Stoffes, gelöst im größten Element der Erde.
1920 überraschte Fritz Haber seine Mitarbeiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie mit dem Entschluss, das Goldvorkommen im Meerwasser eingehend zu untersuchen. Der Techniker Fritz Haber trat in die Fußstapfen der Alchemisten.
Ihn hatte der Eifer gepackt, der so alt ist wie die Kunst der Alchemie selbst: Gold herzustellen!
Denn da das edle Metall so ungleich auf der Welt verteilt ist, der Wunsch nach seinem Besitz jedoch allgegenwärtig, wurden seit der Antike Pläne ausgeheckt, wie es zu gewinnen sei: Die Kolchier hängten das Fell eines Widders in ihre goldführenden Bäche; die Alchemisten suchten Verfahren, wie minderwertige Metalle in Gold verwandelt werden sollten.
Auch noch im 20. Jahrhundert wurden über 300 Patente für die Goldgewinnung oder -umwandlung angemeldet. Dabei geriet immer wieder das Meerwasser in den Blickpunkt der Untersuchungen. Haber konnte auf neun Messungen aus jüngster Zeit zurückgreifen. Ihre Ergebnisse waren weitgespannt. Sie reichten von Bruchteilen eines Milligramms pro Kubikmeter Wasser bis zu 60 bis 70 Milligramm. Die klare Mehrzahl der Untersuchungen kam jedoch auf mehr als zehn Milligramm Goldsubstanz.
Haber war jedoch kein Magier, sondern Techniker. Seine Philosophie lautete: Die Natur will nicht beschworen, sondern bearbeitet werden – mit Wissen, präzisen Methoden und viel Energie. Schon lange hatte Deutschland davon geträumt, unabhängig vom überseeischen Salpeter zu werden.
Doch erst Haber besaß das nötige Wissen, die unvoreingenommene Kombinationsgabe und den Willen zum Durchhalten, um eine Methode zu entwickeln, den in der Luft reichlich vorhandenen Stickstoff zu binden. Mit einem Katalysator und unter extremem Hochdruck gelang es ihm Anfang des Jahrhunderts, die Elemente Wasserstoff und Stickstoff zusammenzuführen – ja zusammenzuzwingen. Das kostete viel Energie, jedoch konnte das gewonnene Ammoniak nicht nur zum Düngen, sondern auch zur Sprengstoffproduktion verwendet werden.
Dieser unbedingte Wille zum Erfolg erfasste ihn auch während des Ersten Weltkrieges. Damit Deutschland in die Lage versetzt wurde, seine Neider und Kriegsgegner in die Knie zu zwingen, probierte er am Kaiser-Wilhelm-Institut Tag und Nacht neue Reizgase an Hunden, Pferden und Menschenaffen aus. Habers zweifellos fatalste, ja menschenverachtende Entwicklung. Doch musste er die Generalität erst wiederholt anspornen, damit sie das Senfgas auch einsetzten, das so großen Schrecken unter den Soldaten verbreitete. Deutschland verlor den Krieg trotzdem.
Haber musste sich vor dem Kriegsgericht in der Schweiz verstecken, und Deutschland brach unter den maßlosen Reparationsforderungen zusammen. Doch Anfang der 20er Jahre sah Haber die Möglichkeit, mit dem Gold aus dem Meer dieses Joch vom Vaterland abzuschütteln.
Wieder ging Haber mit strenger Disziplin und ungeheurer Energie ans Werk. Zu Beginn rührten er und seine Mitarbeiter selbstgefertigte Lösungen in Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben an. Doch das Ziel war, ein Verfahren zu finden, das Metall in industriellem Maßstab aus dem Wasser zu extrahieren und von anderen zu trennen. Außerdem sollte es sich ökonomisch rechnen. Haber glaubte an den Erfolg, und da er ein Mann war, der überzeugen konnte, wurde im Herbst 1922 ein Vertrag mit der Degussa und der Metallgesellschaft abgeschlossen. Die Finanzierung der weiteren, systematischen Forschungsarbeit war gesichert.
Das Untersuchungsobjekt „Meerwasser“ hat im Laufe der Jahrmillionen mindestens 80 der 93 in der Natur vorkommenden Elemente in sich aufgenommen. Zum Teil wurden Mineralien aus Gestein gewaschen, zum Teil schütten Vulkane und heiße Quellen im Meeresuntergrund die Elemente ins Wasser: neben Chlor und Natrium vor allem Magnesium, Schwefel, Kalzium, Kalium, Brom, Strontium und Fluor.
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Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist in Hannover. Er hat Geschichte und Politische Wissenschaften studiert und war Pressereferent der Universitäten Tübingen und Stuttgart. Seine Themenschwerpunkte sind Umwelt, Geschichte und Archäologie.
Vita | Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist in Hannover. Er hat Geschichte und Politische Wissenschaften studiert und war Pressereferent der Universitäten Tübingen und Stuttgart. Seine Themenschwerpunkte sind Umwelt, Geschichte und Archäologie. |
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Person | Von Wolfgang Korn |
Vita | Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist in Hannover. Er hat Geschichte und Politische Wissenschaften studiert und war Pressereferent der Universitäten Tübingen und Stuttgart. Seine Themenschwerpunkte sind Umwelt, Geschichte und Archäologie. |
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