Glaube, Liebe, Hoffnung

Ein englischer Arzt gründete vor 100 Jahren in Ostkanada ein Netz von Krankenstationen für Fischer und Indigene. Es hält bis heute

Als dann auch noch der Wind drehte und plötzlich vom Land her blies, als die Eisscholle mit ihm und seinen Schlittenhunden aus der Bucht Richtung offenes Meer geschoben wurde und er in der Ferne schon die Brecher des Atlantiks sehen konnte – da packte den Mann im Fußballtrikot der Oxford University für einen Moment die Verzweiflung. „Die Chancen, dass mich dort draußen jemand bemerkte, standen vielleicht eins zu tausend“, schrieb er später in seinem Text „A ­Voyage on a Pan of Ice“ über jenen Ostersonntag 1908, „und wenn mich tatsächlich jemand entdecken würde, hätte ich höchstwahrscheinlich wie ein Stück Treibgut ausgesehen.“ 

Dort, wo die Bucht sich weitete, war das Eis auf immer größeren Flächen aufgebrochen. Als die Sonne unterging, war die Scholle bereits Kilometer vom Ende der Hare Bay entfernt. Seine Gelassenheit, für die er bekannt war, hatte der Mann auf dem Treibeis zu diesem Zeitpunkt jedoch wiedergefunden. „Es schien mir beinahe natürlich, diese Welt auf einem Stück Eis zu verlassen“, schrieb er später. „Ich hatte nichts zu bedauern. Außer vielleicht der Tatsache, dass ich diese Geschichte gern meinen Freunden erzählt hätte.“ 

Wie kam jemand mit acht Hunden auf eine kleine Eisscholle, die in den Atlantik hinaustrieb? Stunden zuvor war Dr. Wilfred Grenfell mit seinem Schlitten an Neufundlands Ostküste aufgebrochen, um einem jungen Patienten zu Hilfe zu eilen. Beim Überqueren der zugefrorenen Hare Bay durchbrach das Gespann das brüchige, schmelzende Eis. Der Schlitten versank, Grenfell und seine acht Hunde konnten sich in letzter Sekunde auf eine Scholle retten – eine „esstischgroße Platte“, die nun allmählich Richtung offene See trieb. Grenfell hatte seine durchnässte Winterkleidung ausgezogen und trug nur noch sein altes Fußballtrikot, die kurze Sport­hose und die rot-gelb-schwarzen Stutzen aus seiner Studienzeit, die er Tage zuvor in einer alten Kiste gefunden hatte. Um nicht zu erfrieren, erstach er drei seiner Hunde, wickelte sich in ihr Fell, rollte sich mit den übrigen zusammen – und überlebte schlafend (!) die Nacht. Am nächsten Morgen fand man ihn auf seiner Scholle. Fünf Fischer riskierten ihr Leben, um den Mann zu retten, der in ihrem Land so viele Leben gerettet hatte. Ein Held war „der Doktor“ in den winzigen, weit verstreuten Siedlungen Neufundlands und Labradors damals längst. Seine Nacht auf der Eisscholle aber machte ihn zur Legende. 

1892 war der englische Arzt und Missionar Dr. Wilfred Thomason Grenfell zum ersten Mal an Bord eines Hospitalschiffs an die Küste Neufundlands und Labradors gereist, 27 Jahre alt war er da. Grenfell hatte in seiner Heimat Medizin studiert und sich von den Schriften des Erweckungspredigers Dwight Lyman Moody begeistern lassen, der den Dienst an den Übersehenen und Vergessenen der Gesellschaft predigte. Moodys Kernbotschaft sollte zum Leitmotiv in Grenfells Leben werden. Im Auftrag der Royal National Mission to Deep Sea Fishermen war er als Bordarzt auf Schiffen in der Nordsee unterwegs. Nun sollte er eine medizini­sche Station an Kanadas nordöstlicher Küste gründen. 

Im Norden Neufundlands sowie im benachbarten Labrador lebten Ende des 19. Jahrhunderts etwa 30 000 Menschen – und kein einziger Arzt. Die Le­bens­umstände der Inuit und Innu erschütterten Grenfell. Die meisten haus­ten in erbärmlichen Lehmhütten und trugen Kleidung, die aus Mehlsäcken hergestellt war. Die Boote der Fischer waren kaum seetüchtig. Wer in schlechtes Wetter geriet, kehrte nicht zurück. Ganze Familien litten unter Tuberkulose – und arbeiteten dennoch weiter, weil sie sonst verhungert wären. „Alles, was diese Leute besaßen, war ihre Ausrüstung zum Fischen“, erinnerte sich Grenfell später in seiner Autobiografie „A Labrador Doctor“. „Krankheiten behandelten sie mit Zaubersprüchen und magischer Medizin. Säuglingen wurde Zucker in die Augen geblasen, um sie vor eitrigen Bindehautentzündungen zu bewahren, gegen Rheuma setzten sie Schellfischflossen ein. Ein Kratzer durch einen Angelhaken bedeutete so gut wie immer eine Infektion und oft den Verlust eines Arms oder Beins.“

Der junge Arzt mit dem festen Glauben stürzte sich in die Arbeit: Hier, in den unwirtlichen Regionen Kanadas, bei den vergessenen Menschen Labradors und Neufundlands, hatte Grenfell seine Bestimmung gefunden. Mehrere Sommer lang fuhr er mit einem Stab aus freiwilligen Helfern auf einem Sanitätsschiff die Küste entlang, ankerte in den Buchten und ließ Kranke an Bord. Allein im ersten Jahr wurden auf der „Albert“ bei 87 Stopps fast 1000 Patienten versorgt (ab dem zweiten Sommer war mit der „Princess May“ ein weiteres Lazarettschiff im Einsatz, dessen medizinisches Team eine ähnliche Zahl empfing). Grenfell behandelte Pocken, Skorbut, Diphtherie und Krankheiten, die durch Mangelernährung verursacht worden waren. Er versorgte eingewachsene Zehennägel, entzündete Zähne und Wunden, die seit Jahren schwärten. Er amputierte. Er tröstete. Er beerdigte. 

Das Geld, das die Royal National Mission ihm zur Verfügung stellte, reichte schon bald nicht mehr. Grenfell gründete die Grenfell Mission und begann, um Spenden zu werben. Auch auf diesem Gebiet erwies er sich als äußerst talentiert. Die ersten Finanzspritzen kamen aus der englischen Heimat, wo Grenfell nach seinem ersten Sommer in Neufundland und Labrador auf Werbetour in eigener Sache ging. Später reiste er durch die USA und Kanada, hielt Vorträge und arrangierte Treffen mit all jenen, die entweder ge­nügend Vermögen besaßen, um seine Unternehmungen zu unterstützen, oder genügend Einfluss. Nach einem Vortrag in Montreal schenkte ihm der Präsident der Canadian Pacific Railway ein weiteres Hospitalschiff, die „Dahinda“. Und der Tuchfabrikant Walter Haythornthwaite erfand in seiner englischen Bekleidungs­manufaktur einen besonders dicht gewebten, wärmenden Baumwollstoff namens Grenfell Cloth, nachdem er von der legendären Eisschollenepisode gehört hatte. Jacken und Mäntel der Marke Grenfell sieht man bis heute in den Szenevierteln von London und Tokio.

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Stefan Nink

Stefan Nink, Jahrgang 1965 und Autor aus Mainz, liebt Helden aus der zweiten Reihe, Menschen, die es nie in die Geschichtsbücher schaffen, obwohl sie viel bewirkt haben. Grenfells „A Voyage on a Pan of Ice“ hat er in einem Online-Antiquariat entdeckt. „Ist geschrieben wie eine klassische Jack-London-Erzählung. Nur besser.“

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Vita Stefan Nink, Jahrgang 1965 und Autor aus Mainz, liebt Helden aus der zweiten Reihe, Menschen, die es nie in die Geschichtsbücher schaffen, obwohl sie viel bewirkt haben. Grenfells „A Voyage on a Pan of Ice“ hat er in einem Online-Antiquariat entdeckt. „Ist geschrieben wie eine klassische Jack-London-Erzählung. Nur besser.“
Person Von Stefan Nink
Vita Stefan Nink, Jahrgang 1965 und Autor aus Mainz, liebt Helden aus der zweiten Reihe, Menschen, die es nie in die Geschichtsbücher schaffen, obwohl sie viel bewirkt haben. Grenfells „A Voyage on a Pan of Ice“ hat er in einem Online-Antiquariat entdeckt. „Ist geschrieben wie eine klassische Jack-London-Erzählung. Nur besser.“
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