Giftiger Beifang

Das „Netz“: Sowohl mit dem digitalen als auch dem analogen lässt sich gut fischen – zu eigenem wie fremdem Schaden

Manche Grosse Menschheitsgeschichten lassen sich mit wenigen Worten zusammenfassen. Und es kann sogar vorkommen, dass eine einzige Vokabel ausreicht, um sich bewusst zu machen, wie grundlegend sich die Welt, in der wir leben, verändert hat. Ein kleines Wort insbesondere machte eine bemerkenswerte Karriere. Es wurde ein Allerweltswort von eigener Dimension und in einem bis dato ungekannten Sinn. Die Rede ist vom „Netz“.

Vor langer Zeit war ein Netz nichts weiter als ein Netz – ein ebenso simples wie sinnreiches Gerät zum Beutefang in Gewässern, mit dem der Mensch seinen Speiseplan aufbesserte. Fisch ist bekanntlich gesund wegen der Proteine, die auch die grauen Zellen wachsen lassen. Und so gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen den Ernährungsgewohnheiten an Küsten und der Tatsache, dass sich gerade dort die großen Kulturen entwickeln konnten.

Das urtümliche Jagdinstrument hat sich bis heute erhalten und ist nach wie vor im Gebrauch, massenhafter sogar denn je, in manch ausgeklügelten modernen Variationen, mit den bekannten nachteiligen Folgen für die globalen Fischbestände.

Später dann kamen Zeiten, in denen das Wort Netz mehr und mehr an Bedeutung gewann und metaphorischen Zuwachs erfuhr. Inzwischen existieren mehr als 60 verschiedene Bedeutungszusammenhänge und sinnbildliche Komposita: vom Schienennetz zum Haarnetz, vom Einkaufsnetz zum Leitungsnetz, vom Koordinaten über das Tornetz bis hin zum neuronalen Netz. Selbst in Verbindung mit Lebensbewahrung begegnet es uns: Im Zirkus ersetzt es den doppelten Boden und schützt den waghalsigen Artisten vor dem Sturz in den Tod.

Wer sich darüber klug machen möchte, braucht allerdings keine schweren Lexika. Es genügt eine Sucheingabe bei Google. Denn das Netz weiß selbstverständlich alles, auch über das Netz. Und damit ist schon das Wichtigste gesagt über die einzigartige etymologische Metamorphose, die das auf den ersten Blick eher unverfängliche deutsche four-letter word zur Bezeichnung eines traditionellen Fanggeräts unter den Bedingungen der Digitalisierung erlebt, von denen es praktisch okkupiert wurde.

Kaum ein anderer Begriff hat sich derart nachhaltig aus seinen vorherigen multiplen Bedeutungszusammenhängen herausgelöst und ist zum Code geworden, unter dem alle Welt dasselbe versteht. So herrscht nun eine Epoche, in der des Wortes Bedeutung wiederum geschrumpft zu sein scheint, mit der Folge, dass nur noch die eine, meist gemeinte übrig geblieben ist, die jedem sofort etwas sagt. Und die hat weder mit Fischfang noch mit Schmetterlingsjagd zu tun, nicht mit dem Einkauf im Supermarkt (höchstens mit Onlineshopping) und auch nicht mit der höheren Mathematik, in der der Begriff des Netzes ebenfalls eine Rolle spielt. Klagt jemand, er habe „kein Netz“, weiß jeder gleich, welches Schicksal den Betreffenden ereilt hat, und dieser kann sich eines gewissen Mitgefühls sicher sein. Denn für den Homo digitalis, also gefühlt den überwiegenden Teil der Menschheit, gibt es kaum etwas Schlimmeres, als zeitweilig vom Zugang ins Internet abgeschnitten zu sein.
Anders gesagt, wenn im heutigen Alltag vom Netz gesprochen wird, geht es im Grunde immer nur um das eine: jenes in seinen Strukturen unsichtbare und doch allgegenwärtige Etwas, das so weltumspannend ist wie das geografische Gitternetz, mit dem der Erdball vermessen wurde, und dabei doch alles andere als abstrakt anmutet. Im Gegenteil, es garantiert enorme Beutezüge vor allem jenes konkreten Stoffes, der in unserer bildersüchtigen Welt besonders begehrt ist, weil er immerzu neue Reize für die Netzhaut (sic) des Auges verspricht. Ohne das Internet wäre auch diese globale Dominanz des Visuellen nicht vorstellbar – mit all ihren Verführungen, Täuschungen, Begehrlichkeiten und Trivialitäten, zu schweigen von all den sonstigen befördernden Eigenschaften, die dieser umwälzenden Erfindung innewohnen mit all ihren Möglichkeiten.


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mare No. 121

No. 121April / Mai 2017

Von Mathias Zschaler

Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, lebt als Autor in Berlin. Nach etlichen Jahren als Redakteur bei großen deutschen Tageszeitungen schreibt er heute überwiegend literarisch, aber auch weiterhin regelmäßig journalistisch, unter anderem für Spiegel Online.

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Vita Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, lebt als Autor in Berlin. Nach etlichen Jahren als Redakteur bei großen deutschen Tageszeitungen schreibt er heute überwiegend literarisch, aber auch weiterhin regelmäßig journalistisch, unter anderem für Spiegel Online.
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