Geschichten vom Kaspischen Meer

Wie leben die Menschen am größten Binnenmeer der Welt? Eine Reportage

Nachtwind, Nachtwind. Sie steht an ein Boot gelehnt. Sie sieht auf das Meer. Dort müsste doch ein Licht zu sehen sein, irgendwo. Oder ein Motor zu hören, wenigstens. Das wäre dann ihr Mann. Der mit den Goldzähnen. Der Harmonika spielt und Gitarre. Und Musikunterricht in der kleinen Schule gibt. Keine hundert Schritte steht die Schule hinter ihr, landeinwärts. Das Gemäuer ist meerwasserzerfressen, eine Akazie raschelt davor.

Nachtwind, Nachtwind. Sie heißt Valentina, und sie trägt ein buntes Kopftuch. Sie hat dicke rote Lippen und ein heiseres Lachen, und sie ist Kosakin vom Terek-Fluss. Sie ist die Herrin dieser Insel, die Herrin der Fischmenschen. Valentina gebietet über die Insel Tschetschén.

Tschetschén – das heißt „Ein Korb voller Fische“ – liegt im Kaspischen Meer, ein Dutzend Kilometer von der dagestanischen Küste entfernt, und ist eine der größten Inseln im Kaspischen Meer. Keine schöne Insel. Flach und langweilig wie ein russischer Bürotisch. Und der Boden ist hart wie ein Bordstein. Da wächst nicht viel. Manchmal ein Baum, wenn er Zeit gehabt hat, nicht als Brennholz zu enden, denn im Winter ist es auf Tschetschén kalt, und das Kaspische Meer friert zu, so daß man zu Fuß bis nach Staroteretschnji gehen kann, dem nächsten Festlandsort.

Ansonsten haben die Leute von Tschetschén nur ihre großen plumpen Boote mit den teuren japanischen Außenbordern, mit denen sie den Fischereiinspektoren und den russischen Grenztruppen wegfahren können. Und das müssen sie auch. Denn auf Tschetschén leben eigentlich nur Verbrecher. Brakanjerii – Raubfischer zu Deutsch. Solche, wie Valentinas Mann, der Musiklehrer ist. Nette Leute eigentlich. Aber arm. Der „rote Fisch“, das Gold des Kaspischen Meeres, ist ihre einzige Verdienstmöglichkeit, sonst haben sie nichts auf ihrer Insel, auf der 180 Menschen wohnen, auf der 56 Häuser und ein wunderschöner Leuchtturm aus dem letzten Jahrhundert stehen, auf der es eine Schule mit sechs Lehrern und 30 Schülern gibt und eine Handvoll Soldaten, welche die Fischgründe vor der Insel bewachen sollen, aber keine Boote haben. Mit Stör, das ist der „rote Fisch“, kann man viel Geld machen. Mit Kaviar noch mehr.

Jeder, der auf der Insel wohnt, macht damit Geld. Auch die Fischinspektoren, die selber bedürftig sind und gelegentlich wegschauen, wenn die Leute von Tschetschén zum Nachtfang aufbrechen, denn auch das ist eigentlich verboten: Um 19 Uhr ist Nachtruhe auf der Insel, wer danach auf See angetroffen wird, muss Strafe zahlen oder sein Boot wird konfisziert. So bleiben denn viele nachts lieber auf offener See und kehren erst gegen Morgen zurück. Wie Valentinas Mann.

Auf der Insel ist es dunkel wie in einem alten Postsack. Gelegentlich brummt ein Motorrad mit Beiwagen durch das Dorf, ein dünner Lichtfinger greift zwischen Hühnerschuppen und Brunnen in die Dunkelheit. Johlend verschwinden die Burschen hinter hügeligen Sandwegen. Und es wird wieder still. Nur die Dünung schwappt sanft an den Strand, an den Inselstrand des größten Binnenmeeres der Erde: 380 000 Quadratkilometer, fünf Anrainerstaaten, Ölreichtum im Süden und Osten; Kaviar und Stör im Norden und Westen; ganz flach im Norden, ganz tief im Süden.

Ganz einsam überall. Das Kaspische Meer ist einsam. Kaum Strände und Badeorte. Es ist uninteressant. Es ist hässlich. Die Menschen, die hier wohnen, lieben es nicht. Sie nutzen es aus. Valentina liebt das Meer. Sie liebt die Fischmenschen von Tschetschén. Sie hält ihre kurzen roten Haare in den Wind. Sie ist betrunken. Sie vermisst ihren Mann. Jede Menge Boote liegen aufgeslippt im seichten Wasser. Ein kaputter Traktor steht daneben, Beiwagenmaschinen, die hier Sammeltaxe, Lieferwagen und Brautkutsche sind, säuberlich aufgereiht; sie werden bei Tagesanbruch die Boote ins Wasser ziehen, durchs Seichte hindurch. Meerwärts sieht man Schilf sich wiegen, vielleicht hundert Meter entfernt. Das war einmal ein Inselhügel. So groß ist die Insel gewesen, doch dann stieg das Meer und stieg und stieg, um mehr als 2,50 Meter, und keiner wusste, warum, und dann hörte es wieder auf, und wieder wusste keiner warum, aber da hatte es schon die Schule erreicht und die Gemäuer zerfressen und viele Häuser geschluckt und das sowjetische Kulturhaus in ein malerisches Lapidarium verwandelt. Da gingen viele Menschen weg von Tschetschén. Die russische Regierung kümmerte sich nicht mehr um die Leute hier. Valentina ist geblieben. Natürlich. Schließlich ist es ihre Insel.

„Valentina, wie wird man Herrin einer Insel?“ „Keine Ahnung“, knurrt sie. Der Weg zu ihrem Haus zurück führt quer durch das Dorf, an der Schule vorbei, von den Roten in den Dreißigern auf den Resten einer altgläubigen Kirche errichtet, denn hier leben schon seit 300 Jahren Menschen; früher ausschließlich Russen, Raskolnikii, Altgläubige, die das Kreuz mit zwei Fingern schlugen anstatt mit dreien, wie es der Moskauer Patriarch Nikon 1667 befahl, aber heute ist die Insel bunt gemischt, und Kaukasier fischen hier mit Asiaten und Russen. Die Insel ist ein Abbild Dagestans, der kleinen kaukasischen Bergrepublik am Kaspischen Meer, in der mehr als 40 Nationen wohnen, oft in jedem Tal eine andere.

Ein Schaschlikfeuer flackert. Schatten springen an den Hofwänden auf und ab. In Valentinas Haus wird gefeiert. Strom gibt es nicht, denn Valentina hat keinen Generator. Die Gäste essen Störschaschlik, rot und fett und besser als jeder andere Fisch, und sie stopfen sich Kaviar rein, mit Löffeln so groß wie Radkappen, schwarz ist er und körnig, ungesalzen und frisch. Ganz frisch. Gerade aus dem Meer. „Keine Ahnung“, sagt Valentina noch einmal und stürzt einen weiteren Wodka. Die Gäste tun es ihr nach. Sie lacht und wirft die Arme hoch und singt ein russisches Zigeunerlied, und überall riecht es nach Fisch und Hühnerscheiße, und die Inselnacht ist sternenklar.

Nicht sie hat die Insel, sondern die Insel hat sie, Tatsache. Vor dreißig Jahren ist sie gekommen, als Lehrerin, wie ihr Mann, aus Machatschkala, der Hauptstadt. Das ist längst vorbei, ein anderes Leben, lange her. Jetzt holt sie aus der Hauptstadt die Pensionen für die Alten und die Gehälter für die Lehrer, das macht sie einmal im Monat, mit dem Boot bei jedem Wind, dann geht sie mit ihrer kleinen Handtasche und ihrem Kopftuch durch das Dorf, verteilt Geld und hört zu, löst Probleme und legt sich mit dem Hauptmann der Soldaten an, dass der ganz klein wird und wie ein Bittsteller vor dem Hoftor wartet und unruhig eine Zigarette nach der anderen raucht und sich ziemlich nutzlos vorkommt im Kampf gegen die Raubfischer. Im Kampf gegen Valentina.

„Wovon sollen wir sonst leben?“ brüllt sie und schüttelt ihre Faust in Richtung Tor, hinter der der Hauptmann wartet und nervös raucht. Er will fragen, wo ihr Mann ist, der Musiklehrer. Aber er traut sich nicht. „Sie nehmen uns jeden Fang weg, egal, was drin ist. Mit einer Angel sollen wir aufs Meer fahren, haben sie gesagt“, höhnt Valentina. Die Gäste singen ein Kosakenlied und essen Störschaschlik, was streng verboten ist. Draußen steht der Hauptmann und zittert ein wenig.

Währenddessen liegt der Musiklehrer mit seinem Boot draußen am Wrack der alten Fähre. Den Soldaten wird er am nächsten Tag erzählen, dass er die Nacht in Staroteretschnji verbracht hat, bei Freunden. Heute ist das Kaspische Meer schwarzgrün und sympathisch wie gewaschene Flusskiesel. Es gluckst ein wenig. Der Musiklehrer hat ein dickes Seil durch Kiemen und Maul eines Riesenfisches gezogen, ein Beluga. 65 Kilogramm schwer, davon zehn Prozent Kaviar.

Eine 113-Gramm-Büchse Beluga-Kaviar vom Kaspischen Meer kostet in westlichen Gourmet-Tempeln ca. 200 Mark. Das Fischfleisch bringt in Machatschkala immerhin noch 1200 Mark. Allein der Beluga-Kaviar ist ein Vermögen wert, selbst hier. Der Musiklehrer hat den Fisch aufgeschnitten und holt die graubraune Masse mit vollen Händen aus dem Leib. Etwas größer als Stör-Kaviar, etwas milder, etwas weniger salzig. Bei alten Fischen wird er golden und ist dann neben Trüffeln das teuerste Essbare auf der Welt. Ein Beluga braucht 20 Jahre, um Kaviar zu produzieren, sein Gewicht kann bis zu einer Tonne betragen, aber das ist schon seit 80 Jahren nicht mehr gewogen worden: Brakanjerii, Raubfischer. Der Musiklehrer nimmt den Kaviar und steckt ihn in einen Wachsbeutel, der ausgewaidete Fisch wird ins Wasser gehängt. Später wird er ihn an die Kaviar-Mafia von Machatschkala verkaufen. Er lehnt sich zurück, wartet auf den Morgen. Wenn er genau hinhört, kann er Inselgeräusche vernehmen. Nachtwind, Nachtwind.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Volker Handloik und Russell Liebman

Volker Handloik, Jahrgang 1961, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin. In mare No. 4 erschien sein Artikel „Die kleine Elite“ über die russischen Seekadetten.

Der Fotograf Russell Liebman, geboren 1966 in New York, lebt heute in Berlin. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Reportagefotografie.

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Vita Volker Handloik, Jahrgang 1961, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin. In mare No. 4 erschien sein Artikel „Die kleine Elite“ über die russischen Seekadetten.

Der Fotograf Russell Liebman, geboren 1966 in New York, lebt heute in Berlin. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Reportagefotografie.
Person Von Volker Handloik und Russell Liebman
Vita Volker Handloik, Jahrgang 1961, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin. In mare No. 4 erschien sein Artikel „Die kleine Elite“ über die russischen Seekadetten.

Der Fotograf Russell Liebman, geboren 1966 in New York, lebt heute in Berlin. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Reportagefotografie.
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