So geht es manchmal einem schönen Ding: dass niemand weiß, was es denn eigentlich sei. Picasso, der wegen einer seiner Plastiken diese Frage über sich ergehen lassen musste, antwortete: "Es ist nichts." Jenes Nichts befindet sich heute in New Yorks Museum of Modern Art, nur zwei Etagen unter der Designabteilung, in der zwei weitere scheinbar unerklärliche Formen, Fórcole aus einer venezianischen Werkstatt, zu Kunst geworden sind.
Was wir nicht erkennen, halten wir für abstrakt. Dabei wird wohl jeder Venedig-Besucher eine Fórcola schon einmal gesehen haben. Wer sich am Dogenpalast für eine Weile niederlässt und einem Gondoliere bei seinen Verrichtungen zum Feierabend zuschaut, wird bemerken, dass er dem unscheinbaren Gegenstand ein besonderes Augenmerk widmet. Nachdem er die Gondel wetterfest gemacht hat, zieht er vorsichtig die hölzerne Fórcola, die Dolle, die der Gondoliere zum Rudern benötigt, aus einer oft mit Metall hübsch verzierten Öffnung im Dollbord der Gondel. Mancher schlägt sie dann sorgsam in Samt, andere haben ein Lederfutteral dafür parat. Erst dann sorgt er sich um einen Kollegen, der ihn an Land übersetzt.
So machen es Venedigs Gondolieri nun schon seit gut 1000 Jahren; denn so lange es Fórcole gibt, gibt es auch Gondeln. Diese findet man nirgendwo sonst (wo noch müssen Ruderer so zwingend in Fahrtrichtung blicken können?), und kein weiteres Boot hat es je zum Symbol einer Stadt, ja zum Inbegriff des Fahrzeug der Liebe gebracht. Dabei war die Gondel eigentlich nichts als ein öffentliches Personennahverkehrssystem im brückenlosen Teil des Canal Grande zwischen Rialto und Accademia.
Sieht man von Details und Varianten ab, hat die Gondel über die Jahrhunderte wenig Änderung erlebt. Die klassische Gondel ist gut zehn Meter lang, trägt Trauer, ein mattes Schwarz aus Ruß und Firnis, und wird mit Armkraft gefahren - von einem Gondoliere mit einem remo, Ruder, auf einer Seite am Heck. In jedem anderen Ruderboot der Welt geriete dies zu einer Kreismeisterschaft. Nicht mit der Gondel. Auf rätselhafte Weise kann der Gondoliere sie wunderbar leicht bewegen; kann sie schnell anhalten, diagonal versetzen oder um enge Kurven fahren, sich aus einem Gondelstau manövrieren, immer gut balanciert und stabil, den Wellenschlag absorbierend. Dabei hilft ihm ein kaum sichtbares Geheimnis: die asymmetrische, gebogene Längslinie des Rumpfs. Sie gleicht die Einseitigkeit des Antriebs aus.
Vor allem aber hilft ihm dabei die Fórcola, die "Gabel". Sie ist auf dem Dollbord an der rechten, der Backbordseite aufgepflanzt und gewissermaßen das Getriebe des menschlichen Außenborders: Sie dient dem Ruder des Gondoliere - unerlässlich, das leuchtet jedem ein - als Auflage und Widerlager. Jede einzelne ihrer Ausbuchtungen, Einlegeklauen und Drehflächen erfüllt eine Grundfunktion des Gondelfahrens: Anfahren, Beschleunigen, kurzer oder ausholender Ruderschlag, Beidrehen, Halten, Anlegen, Rückwärtsfahren und so fort.
Klassisch steht der Gondoliere dabei mit dem linken Fuß nach vorn, in der Hüfte beweglich, packt den Riemen, legt ihn an die Fórcola, dann rührt er das Wasser der Lagune, klatscht und schaufelt, bohrt, schneidet, knetet, dreht und hebelt; mal taucht er das Ruder tief ein, dann streichelt er die Wasseroberfläche, und wenn das Boot endlich fährt, beginnt er zu singen.
Ein kinetisches Wunderding. Die Formen der Fórcola sind dem Ruderer individuell angepasst: Vor allem Kraft, Technik, Statur und Bewegungseigenheiten bestimmen das Detail, aber auch Bootsform, Wellengang und Einsatzort. Mehr noch: In der hermetischen Gilde erkennen sich Gondolieri sogar an tradierten Familienformen.
In wochenlanger Handarbeit wird die Fórcola von wenigen verbliebenen Meistern, den remèri, die im gesellschaftlichen Rang eines guten Arztes stehen, meist aus Nussbaum hergestellt; nicht selten kommt ein Gondoliere, um Millimeter an der Fórcola ändern zu lassen. Da es dazu eine Unzahl Untertypen gibt, alle in einer klingenden Nomenklatur wie fórcola da prua velàda per gondolìn benannt, gleicht keine der anderen. Ihr Doppelleben als Kunst- und Funktionsobjekt hat sie zu kostbaren Sammelstücken gemacht.
Sehnsuchtsfahrzeug und Liebesschaukel, Touristenschunkel, Neppschlepper, die Gondel ist das dienstälteste Boot Europas - und die Fórcola ist ihre Seele. Und ein wenig ist sie wie Venedig selbst: schwungvoll und elegant, bescheiden und kapriziös, edel und von beschränktem Nutzen; sie ist alles und das Gegenteil von allem, sie ist symmetrisch und nie im Lot, konvex und konkav, alles scheint sich zu wiegen, dem Fluss der Wellen und Gezeiten folgend.
Die Fórcola ist nach Belieben: von Wind und Wellen geformtes Holz, Artefakt uralten Handwerks, vollendet schönes Werk eines Künstlers, wie von Constantin Brâncusi, Jean Arp oder Henry Moore, sie ist ein Kunststück aus Venedig.
Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
Vita | Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln. |
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Person | Von Karl J. Spurzem |
Vita | Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln. |
Person | Von Karl J. Spurzem |