Folge 3: Die Wachtmeisterin

Der Arbeitsalltag einer Sicherheitsingenieurin in der Zentralarktis

Gestern habe ich mit Schrecken festgestellt, dass die Hälfte meiner Zeit an Bord der „Polarstern“ vorbei ist. Gefühlt sind wir gerade erst in Tromsø losgefahren, und es ist noch so viel zu tun. Der Aufbau des Camps ist nicht abgeschlossen, da uns, wie erwartet, Risse und Presseisrücken in der Scholle regelmäßig zu Umbaumaßnahmen zwingen. Auch für mein Logistik- und Sicherheitsteam gibt es, neben Eisbärenwache, Baumaßnahmen und Ladungsoperationen, an Bord und auf dem Eis noch viel zu tun, ehe wir von etwas, das entfernt an Routine erinnert, sprechen könnten. Es fragt sich, wie viel Routine bei einem derartigen Projekt entstehen kann. Wie viel Planung lässt eine Expedition in die Zentralarktis überhaupt zu?

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich der Betrieb der drei fest installierten Infrarotkameras derart viel beschäftigen würde. Sie dienen zum einen dazu, rechtzeitig Eisbären zu bemerken, zum anderen helfen sie uns, den Standort aller auf dem Eis Arbeitenden jederzeit zu kennen, um bei einem Aufbruch der Scholle oder anderen Zwischenfällen entsprechend reagieren zu können.

Uns allein auf starke Scheinwerfer zu verlassen war keine Option, das leuchtet jedem ein, der bei Schneefall und Nebel Auto fährt. Uns war klar, dass wir auf verschiedene Systeme setzen müssen, um eine optimale, ausfallsichere Überwachung der Scholle in der Polarnacht zu gewährleisten. Daher stehen Infrarotkameras oberhalb der Brücke, die auf verschiedenen Frequenzen und mit unterschiedlicher Signalverarbeitungstechnik arbeiten. Die von mir erwarteten Probleme mit den Kameras scheinen sich überhaupt nicht zu bestätigen, dafür stehe ich vor Herausforderungen, die ich vorher nicht abschätzen konnte.

Die kleinste der drei Kameras sieht aus, als komme sie aus der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses, und hat die Größe und Form eines Badezimmermülleimers. Entgegen meiner Erwartung gibt sie mit stoischer Konstanz, egal bei welchem Wetter, ein derart gutes Bild ab, dass ich mich jeden Tag darüber freue, sie dabeizuhaben, obwohl ich an ihrem Überleben in der Arktis gezweifelt habe. Weit gefehlt, und es lehrt mich wieder einmal, nicht vorschnelle Urteile zu fällen.

Momentan kämpfe ich mit einer der beiden großen Infrarotkameras, genau die, um die ich mir die wenigsten Sorgen gemacht habe. Nun versuchen ein Kollege und ich dem Problem mit Wärmezufuhr an der Kamera entgegenzuwirken – was mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn wir bei mehr als minus 20 Grad versuchen, einen störrischen Heizdraht mit selbstklebendem Isolierband zu befestigen, geht mir schon einmal ein Fluch über die Lippen. Der Begriff „selbstklebend“ kommt im arktischen Wortschatz nicht vor und schließt sich durch die Bedingungen aus. Wenn etwas trotz der Temperaturen doch noch einen Rest Selbstklebeeigenschaften aufweisen sollte, dann dank des Windes überall, nur nicht da, wo es platziert werden soll. Ein weiteres Problem ist, dass in der Kälte alles porös wird. Greift man verzweifelt zum Kabelbinder, um nicht klebendem Isolierband auf die Sprünge zu helfen, zerspringt dieser schon bei leichtem Zug, obwohl wir schon die Variante für niedrige Temperaturen mitgenommen haben.

Dies sind nur einige der Hindernisse, denen ich hier unter arktischen Bedingungen täglich begegne und die einfachste Aufgaben nervenaufreibend machen. Dabei muss ich manchmal aufpassen, nicht das große Ganze aus den Augen zu verlieren: Teil dieses grandiosen, riesigen und etwas verrückten Projekts sein zu können. Wenn ich als Bärenwächterin auf dem Eis durch das Nachtsichtgerät schaue und dafür sorge, dass die Wissenschaftler ihrer Arbeit nachgehen können, bin ich mit mir allein und habe Gelegenheit zu reflektieren. Der Blick auf die Dinge ändert sich dann im wahrsten Sinn des Wortes. Ich neige hin und wieder dazu, von Kleinigkeiten absorbiert zu werden und zu vergessen, wo ich hier bin: auf einer Eisscholle, die ein paar Kilometer am Tag mitten im hier 4000 Meter tiefen Arktischen Ozean treibt. Was sollen mich da Kabelbinder und Klebeband ärgern?

mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Bjela König und Esther Horvath

Von Bjela König und Esther Horvath

Mehr Informationen
Vita Von Bjela König und Esther Horvath
Person Von Bjela König und Esther Horvath
Vita Von Bjela König und Esther Horvath
Person Von Bjela König und Esther Horvath