Fern der Welt dem Ruhm entgegen

Die Verbannung missliebiger Persönlichkeiten auf entlegene Inseln war nicht selten der Beginn ihrer Mythisierung.

Vor 200 Jahren, am 18. Oktober 1815, betrat  Napoleon nach zweimonatiger Reise auf der HMS „Northumberland“ den Boden seines letzten Exils, die unter englischer Verwaltung stehende Insel St. Helena im Südatlantik: ein spärlich bewachsenes, zerklüftetes Eiland, knapp größer als Sylt, das nichts als Wind, Felsen und Meer bot; 2000 Kilometer sind es bis zum afrikanischen Festland. „Wir haben die unwirtlichsten Gegenden Europas durchstreift, aber keine davon ließe sich auch nur entfernt mit diesem trockenen Felsen vergleichen“, vermerkt Napoleon bitter in einem der zahlreichen Beschwerdebriefe an den Gouverneur. Deutlicher noch wurde die Gattin des Generals Bertrand, die zu dem Hofstaat gehörte, der den Kaiser in die Verbannung begleitete. „Diese Insel hat der Teufel geschissen.“

Machtverlust, Bedeutungsverlust, Abhängigkeit von den Bewachern, die nach der Erfahrung von Elba kein Risiko eingehen wollten – die Jahre auf St. Helena bedeuteten ein Leben ohne Perspektive. Belastend war vor allem die monotone Langeweile, die kein Spaziergang, auch nicht das Gärtnern, die späte Lieblings­beschäftigung Napoleons, beheben konnte. Auch die „Residenz“ Longwood House bot wenig; sie war eher ein erweiterter, heute zum Museum ausgebauter Holzschuppen, woran auch das aus Paris mitgebrachte Tafelsilber nicht viel änderte. Lagerkoller soll bis zum Schluss geherrscht haben. Nur die seltenen Ankünfte von Schiffen, die neue Nachrichten oder Bücher brachten, schufen Abwechslung. Die Isolation war umfassend. Sie wird übrigens erst in unseren Tagen ein Ende finden, da auf der Insel in Kürze ein Flughafen eröffnet wird, der die Aufgabe des bisherigen Postschiffs, der RMS „St Helena“, überflüssig machen soll.

Allen Unbilden zum Trotz: Auf die Geschichte gesehen, hatte die Verbannung in Napoleons Fall durchaus einen positiven Nachhall. „Sein Ruhm“, vermerkte der Romantiker Chateau­briand, „nährte sich von seinem Unglück.“ Die Verbannung förderte den Mythos eines auch politisch weit vorausschauenden Einzelgängers, der im Bild der über den Ozean in die Ferne blickenden Figur konkret wurde. „Si Jesus-Christ n’était pas mort sur le croix, il ne serait pas Dieu“, „Wäre Christus nicht am Kreuz gestorben, wäre er nicht Gott“: Zu dieser Rolle trug vor allem das Memorial bei, das Napoleon nachmittags diktierte; es unterfütterte den Mythos mit Zitaten, etwa über die Zukunft eines ­geeinten Europas, und bestimmte derart die zukünftige Exegese kaiserlicher Ambitionen. Das Bemühen hatte, wie wir heute wissen, Erfolg. Der Bonapartismus fand im Neffen Napoleon III. eine Fortführung, das Bild Napoleons in den Geschichtsbüchern blieb positiv; bis heute trägt es bei zum Selbstbild des Staates, zur Glorie der Nation. „Der Name Napoleon“, schrieb schon Heinrich Heine, „ist freilich fast synonym geworden mit dem Ruhm Frankreichs und dem Sieg der dreifarbigen Fahne.“ Napoleons Verbannung, seine Haftbedingungen, das harte Schicksal eines Großen in hilfloser Lage schufen das Bild des prometheisch Gefesselten, der in seinen politischen Visionen zu früh scheiterte – Verbannung als Voraussetzung der Geschichtsverklärung.

Wie stark Inseln mythenbildend wirken können, belegt der Blick auf eine Tradition, die von der Antike bis weit ins 20. Jahrhundert reicht. Kein Ort bot sich besser als Verbannungsort an. Inseln galten ihrer schweren Zugänglichkeit wegen als sicher. Die Verbannten, deren Märtyrertod man vermeiden wollte, hoffte man derart auch dem Vergessen preiszugeben. Nicht umsonst betraf das Schicksal vor allem die Angehörigen zweier Berufe, die zu ihrer Existenz der Öffentlichkeit wie der Sprache bedürfen: Politiker und Schriftsteller, zu denen in heutigen Zeiten vielleicht noch Journalisten oder Whistleblower zu rechnen wären, denen man statt der Insel nur mehr das Hotelzimmer als Verbannungsort zubilligt. Nach dem Verlust der Handlungsmöglichkeiten blieb der Resonanzraum ihrer Worte das Kriterium ihres Wirkens wie des möglichen Nachruhms.

Den paradigmatischen Auftakt macht der durch seine Liebesliteratur in Ungnade gefallene Ovid, den ein Dekret Kaiser Augustus’ nach Tomis ans Schwarze Meer, das heutige rumänische Constanta, verbannte. Der Ort, zu jener Zeit so isoliert wie eine Insel und weit entfernt von römischer Kultur, war für Ovid barbara terra, die „fellgekleidete Sarmaten und pfeilbewaffnete Geten“ bevölkerten, mit entsprechenden Sprachen. „Oftmals such ich ein Wort“ ist zum Motto der ans ferne Rom gesendeten Klagebriefe geworden wie später zum Symbol für jene zahllosen Exilliteraten, denen der Verlust der Sprache in der Fremde zur Lebensnot wurde. Der nach Hofintrigen von Kaiser Claudius auf Korsika verbannte Staatsdichter Seneca (1–65) machte ganz ähnliche Erfahrungen: „Wenn du meinst“, schrieb er nach Rom, „dass diese Ausführungen deinem geistigen Niveau nicht ausreichend entsprechen …, dann bedenke, dass … lateinische Worte nicht leicht einem unglücklichen Menschen zufallen, den niveauloses und selbst relativ gebildeten Nichtrömern schwer aufstoßendes Barbarengebrabbel umgibt.“ Das Unglück kulminiert – ein wiederkehrendes Muster bei verbannten Literaten – in Sprachnot.


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mare No. 114

No. 114Februar / März 2016

Von Frank Maier-Solgk

Frank Maier-Solgk, promovierter Germanist, ist Autor zahlreicher Publikationen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften zu Themen aus Architektur, Städtebau, Reise und Kulturgeschichte. Er übt Lehraufträge in Düsseldorf und Berlin aus. Maier-Solgk liebt Reisen – ob auf Inseln oder nicht – mit kulturhistorischem Hintergrund. Als Journalist weiß er außerdem: Er gehört zu einer seit alters gefährdeten Gattung.

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Vita Frank Maier-Solgk, promovierter Germanist, ist Autor zahlreicher Publikationen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften zu Themen aus Architektur, Städtebau, Reise und Kulturgeschichte. Er übt Lehraufträge in Düsseldorf und Berlin aus. Maier-Solgk liebt Reisen – ob auf Inseln oder nicht – mit kulturhistorischem Hintergrund. Als Journalist weiß er außerdem: Er gehört zu einer seit alters gefährdeten Gattung.
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Vita Frank Maier-Solgk, promovierter Germanist, ist Autor zahlreicher Publikationen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften zu Themen aus Architektur, Städtebau, Reise und Kulturgeschichte. Er übt Lehraufträge in Düsseldorf und Berlin aus. Maier-Solgk liebt Reisen – ob auf Inseln oder nicht – mit kulturhistorischem Hintergrund. Als Journalist weiß er außerdem: Er gehört zu einer seit alters gefährdeten Gattung.
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