Fatale Kettenreaktion

Der Schlüssel zum Weltklima: Der neue „World Ocean Review“ zeigt, wieso sich in den Polarregionen die Zukunft der Erde entscheidet

Der Polartourismus ist ein boomendes Geschäft. Im kommenden Südsommer werden fast 78 000 Urlauber per Schiff die Antarktis besuchen, im Jahr zuvor waren es noch rund 55 500 Passagiere. Fahrten in die Arktis sind ebenso stark nachgefragt. Angesichts der dramatischen Klimaveränderungen auf der Erde setzt sich bei vielen Naturliebhabern nämlich die Erkenntnis durch, dass die Polarregionen mit jedem Tag ein großes Stück ihrer faszinierenden Eiswelten verlieren. Experten bezeichnen den Reisehype deshalb als „Tourismus der letzten Chance“. Das mag auf den ersten Blick zynisch klingen, entspricht aber der bitteren Realität. Denn das Tempo, mit dem der Klimawandel inzwischen die Arktis und Teile der Antarktis verändert, sorgt nahezu wöchentlich für Schlagzeilen.

Alaska beispielsweise erlebte Anfang Juli 2019 eine Hitzewelle mit Sommertemperaturen von mehr als 30 Grad Celsius. Normal sind in der Region um die 18 Grad Celsius. Das Meer vor den Küsten Alaskas war zur selben Zeit bis zu vier Grad Celsius wärmer als üblich, und die Meereisdecke hatte sich rekordverdächtig weit in die zentrale Arktis zurückgezogen. Zur Hitze gesellte sich dann auch noch extreme Trockenheit, infolge derer Alaskas Taiga und Tundra Mitte Juli auf einer Gesamtfläche von mehr als 6000 Quadratkilometern brannten.

Solche Wetterextreme und ihre fatalen Folgen für Natur und Mensch gehören inzwischen zum Alltag in vielen Regionen der Arktis. Angetrieben durch die stetig steigende Treibhausgaskonzentration und komplexe Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Land, Meer und schwindendem Eis, erwärmt sich das Nordpolargebiet doppelt so schnell wie die restliche Welt. Diese Entwicklung stellt nicht nur die Lebensbedingungen für die einheimischen Tiere, Pflanzen und Menschen auf den Kopf, sie setzt auch eine Klimaspirale in Gang, die weit über die Grenzen der Polarregionen hinaus wirkt. Dürren in Europa und steigende Pegel an den Küsten sind hier nur zwei Stichwörter von vielen.

Aufgrund dieser zunehmenden Bedeutung der Polarregionen für die Zukunft der Erde widmet sich die neu erschienene, sechste Ausgabe des „World Ocean Review“ („WOR“) ausführlich der Arktis und Antarktis. Als Kältepole nehmen beide Gebiete eine Schlüsselposition im Klimasystem der Erde ein. Im Winter stets von der Sonne abgewandt, kühlten sie in der Vergangenheit so stark aus, dass sich im Lauf der Zeit große Landeis- und Meereisflächen bildeten. Diese wiederum reflektieren bis heute bis zu 90 Prozent der einfallenden Sonnenstrahlung zurück ins All und bremsen so die Erderwärmung. Gleichzeitig treiben die Temperaturunterschiede zwischen den Tropen und den Polarregionen die weltumspannenden Wind- und Meeresströmungen an. Die im System Erde gespeicherte Wärme wird so gleichmäßig über den Globus verteilt.

Mittlerweile aber gibt es klare Anzeichen dafür, dass die Temperaturgegensätze im Zug der Erderwärmung abnehmen und die Winde und Meeresströmungen neue Pfade einschlagen – mit weitreichenden Konsequenzen für die Eismassen der Polarregionen. Welche physikalischen Prozesse dahinterstecken, welche Veränderungen beobachtet werden und was der Rückzug des Eises für das Klima der Erde und für die hochangepasste Tier- und Pflanzenwelt der Polarregionen bedeutet, erläutert der neue „WOR“ ausführlich.

In den Fokus rücken dabei auch die Unterschiede zwischen beiden Gebieten. Während zum Beispiel das Nordpolargebiet als von Landmassen umgebener Ozean stets für Mensch und Tier zu Fuß erreichbar war, trennt auf der Südhalbkugel ein Ringozean den antarktischen Kontinent von der restlichen Welt. Diese geografische Isolation führte in der Vergangenheit nicht nur zu extremen Vereisungen und der Herausbildung endemischer Arten. Sie erklärt auch, warum der Mensch die Antarktis erst viel später entdeckte als die Arktis und die Großmächte vor 60 Jahren bereit waren, die politische Verantwortung für das Südpolargebiet zu teilen. Der Antarktisvertrag von 1959 gilt bis heute als eines der erfolgreichsten internationalen Friedensabkommen und beschränkt über Zusatzabkommen die heutige Nutzung der Antarktis auf Forschung, Fischfang und Tourismus.

In der Arktis dagegen wird das politische Geschehen durch die Anrainerstaaten diktiert, die den klimabedingten Veränderungen durchaus etwas Positives abgewinnen können. Mit dem Meereis schwindet eine natürliche Barriere, die arktische Rohstofflager und Fischgründe bislang vor dem Zugriff des Menschen schützte. Allein Russland will in den kommenden Jahren umgerechnet über 160 Milliarden US-Dollar investieren, um die wirtschaftliche Entwicklung seiner arktischen Territorien voranzutreiben und den Nördlichen Seeweg auszubauen. Finanzstarke Partnerländer wie China und Saudi-Arabien unterstützen diese Pläne.

Umwelt- und Klimaschützer schütteln angesichts dieses ökonomischen Kalküls nur den Kopf. Zum einen nehmen mit der menschlichen Aktivität in der Arktis die Beeinträchtigungen der polaren Umwelt enorm zu; zum anderen setzen Russland und andere Arktisanrainer in ihrer Wirtschaftsstrategie vor allem auf die Förderung fossiler Brennstoffe. Solange die internationale Staatengemeinschaft diesem Treiben keinen Einhalt gebietet, wird sich die Klimaspirale in den Polarregionen weiterdrehen, mit kaum absehbaren Folgen für die gesamte Welt.

mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Sina Löschke

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Ein kostenloses Exemplar des „World Ocean Review 6“ können Sie bestellen unter www.worldoceanreview.com.

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