Fahrt in die Ewigkeit

Wo Wasser fließt, da bin auch ich. Der abstrakte Trost einer Bestattung auf See

Als ich fünf Jahre alt war, war jeden Sonntag Totensonntag. Jeden Dienstag war Allerheiligen und jeden Donnerstag Volkstrauertag, zumindest im Sommer“, erinnert sich Wilhelm Eggers. Er hätte dann stets seine Mutter (neu) auf den Friedhof begleitet zur Pflege des Grabes seiner Mutter (alt), die kurz vor seinem dritten Geburtstag gestorben war. Der Vater hätte ja immer viel Arbeit gehabt und keine Zeit für so was. „Sollten die Frauen wohl unter sich ausmachen.“

Wir saßen nah am Wasser auf einer Bank in Lübeck-Travemünde und waren plötzlich ins Gespräch geraten. Vor uns an der Prinzenbrücke hatte gerade die „Sven Johannsen“ festgemacht, deren eigentlicher Zweck in großen Buchstaben auf die Deckaufbauten gemalt ist: „Kurz-Einkaufsfahrten“. Doch heute ist die „Sven Johannsen“ verchartert: an die Deutsche See-Bestattungs-Genossenschaft.

Eggers hätte als Kind schnell gelernt, dass der Onkel vom Grab neben seiner Mutter der bessere Mensch sein müsse: Der hätte immer seine Flasche Unkraut-Ex hinterm Grabstein stehen gehabt und mit Nagelschere und Wasserwaage die Erika getrimmt. „Man sollte wohl den Pegel seiner Trauer schon von weitem ablesen und bewundern können. Seitdem verabscheue ich Friedhöfe. Und Gartenarbeit.“

550 gedenkende Angehörige von Seebestatteten fahren heute in drei Schichten an die Beisetzungsstelle in der Lübecker Bucht. Dorthin, wo die Asche ihrer Angehörigen auf dem Grunde der Ostsee aus wasserlöslichen Urnen dem Meere ausgeliefert wurde. Oder auch anvertraut.

In Kiel tun heute 450 Menschen in zwei Fahrten das Nämliche. Und auf Helgoland gibt es für die in der Nordsee Versenkten einen Gedenkgottesdienst in der Inselkirche. Das alles bietet die Deutsche See-Bestattungs-Genossenschaft ihren Kunden als eine Art Trauernachsorge an, alljährlich schon am zweiten Sonntag im September. Denn im November, wenn alle anderen ihrer Toten gedenken, gäbe es schnell ein Problem mit dem Wetter.

Wir gehen an Bord. „Vor einiger Zeit war ich dann auf einmal älter, als meine Mutter je geworden war“, versucht jetzt Wilhelm Eggers einen Abschluss für seine Geschichte. „Und da macht sich der Mensch dann so seine Gedanken. Meine Kinder waren jetzt älter als ich zur Zeit dieser ersten Friedhofsbesuche.“ Und was sei Erziehen anders, fragt Eggers, als täglich zu schlittern zwischen Genau-so-Machen und Ganz-anders-Machen, zwischen „Die sollen es mal besser haben“ und „Das hat mir auch nicht geschadet“? Aber das mit der ewigen Grabpflege, nee, das müsse ja wirklich nicht sein, das sollten sie nun wirklich besser haben, die Kinder. Und die Frau auch. Frauen leben ja länger. Nein, das kannst du alles ersparen, dir und deinen dich überdauernden Hinterbleibenden. Entscheide dich einfach, ins Wasser zu gehen. Und sag rechtzeitig Bescheid. „Ich seh mir das heute noch an“, sagt Eggers, „und morgen unterschreib ich mein Testament.“

Eine halbe Stunde sind wir jetzt gefahren. Ein Bläserquartett drückt sich in die kleine Bordküche, weil dort das Mikrofon aus der Wand hängt – natürlich ist so ein Schifflein viel zu verschachtelt, als dass alle Fahrgäste auf einem Deck den Pfarrer sehen könnten. Wir singen Jesu geh voran auf der Lebensbahn. Eigentlich singen wir nicht wirklich, sondern hören nur die Bläser aus dem Bordlautsprecher, sehen durch das Notenblatt hindurch in unseren Kaffeepott hinein oder aufs Meer hinaus oder an unseren Blumen hinunter. Es spricht Pfarrer Rudolf Knoche aus Kiel. Und er spricht schön und klar und norddeutsch. Er kommt uns Menschen ganz nah und steigt pfeilgrad in unsre Herzen. Er spricht über das Mühsame des Trauerns. Und dass da gar nichts zu beschönigen sei. Aber dann muss auch mal wieder gut sein, sagt der Pfarrer. Dem Toten hilft das doch nicht, wenn wir uns das Wiederfinden von Freude versagen. So.

Jetzt singen wir Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt. Aber eigentlich singen wir nicht, sondern hören den Bläsern zu, murmeln allenfalls ein wenig an der letzten Strophe herum: Mach End o Herr mach Ende mit aller unsrer Not.

Jetzt werden die Namen jener verlesen, derer wir gedenken. Viele Männer, wenig Frauen. „Klar“, flüstert Eggers, „wer zuerst stirbt, kann nicht trauern.“ Dann werden Sträuße, Blüten und Gestecke der See übergeben. Das schlägt unmittelbar ins Gemüt: wie die bunten Blumen aufs Wasser prasseln, von allen Decks, von allen Seiten. Manche werden sofort vom Kielwasser untergepflügt. Die meisten jedoch bleiben noch lange zurück, schwimmen im Trüben an dieser Stelle, wo seinerzeit die Urnen sanken.

Natürlich singen wir jetzt noch Großer Gott wir loben dich. Eigentlich hören wir auch den Bläsern kaum mehr zu. Wir schauen lang den Blumen nach, richten diesen endlosen Blick aufs Meer, der uns an jeder Küste, jedem Strand, jedem Ufer mit unseren Gestorbenen verbindet. Rolling home spielen die Bläser. Das ist wie das Orgelnachspiel in der Kirche.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 28. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Peter Schanz

Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor und Dramaturg am Niederrhein. Seine Leidenschaft gilt der Seefahrt. Im mare-Hörbuch 80 Tage Blau sind seine Erlebnisse von einer Containerschifffahrt zu hören.

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Vita Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor und Dramaturg am Niederrhein. Seine Leidenschaft gilt der Seefahrt. Im mare-Hörbuch 80 Tage Blau sind seine Erlebnisse von einer Containerschifffahrt zu hören.
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Vita Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor und Dramaturg am Niederrhein. Seine Leidenschaft gilt der Seefahrt. Im mare-Hörbuch 80 Tage Blau sind seine Erlebnisse von einer Containerschifffahrt zu hören.
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