Etwas zu viele alte Männer

Serie „Legendäre Hafenstädte“: Triest, früher einziger Meereszugang Österreichs, gibt sich melancholisch

Das äußerste Ufer ist der Molo Audace. Es ist Montag früh, die Mole liegt nun leer, und erst in fünf Tagen und acht Stunden wird sie sich wieder mit Liebespaaren füllen und Flaneuren und alten Männern, die angestrengt angeln – also am Wochenende. Mich umwispert ein würdevoller Adriawind, zivilisiert und eher harmlos. Vor mir liegt ein leerer Hafen. Und hinter mir, da liegt das Habsburgerreich, dieser zerklüftete Kontinent. Hinter mir liegt Wien, vor dessen Toren 1529 der Polenkönig Jan Sobieski die Türken stoppte, liegt die Reichshauptstadt Prag, in der man 1618 einige Ratsherren aus dem Fenster schmiss; hinter mir liegt Sarajevo, wo man 1914 das Thronfolgerpaar meuchelte, liegen Donau und Walzer und Soldat Schwejk.

Dies alles fängt dort an, wo der dicke Bruno mit seinem Eiskarren steht: am Anfang der Mole, die man „die Kühne“ nennt. Jeden Tag sitzt er da auf seiner Eistheke, lässt die Beine baumeln, liest die Provinzpresse, wird immer dicker. Und hinter ihm ist die Piazza Unitá d’Italia, ein wenig leer, und nur gelegentlich bewegen sich die bunten Sonnenschirme am Caffé degli Specchi schüchtern im Wind.

Rom ist weiter weg als Wien

Bruno ist Triestiner. Ein maulfauler Melancholiker. Die angelnden Altmänner grüßen ihn nicht, in Triest ist man nicht so leichtfertig, Distanz bitte. Sein Karren steht dort, wo die Riva Tre Novembre in die Riva del Mandracchio übergeht. Gelegentlich bitten sittsam gekleidete österreichische Seniorinnen ihn um zwei Kugeln Eis, oder eine Schulklasse, die auf dem Weg ins Aquarium ist, lärmt um ihn herum. Kaum dass er die Zeitung dabei weglegt. Ich schlendere die Mole hinunter, wie jeden Morgen. Bruno schaut mich nie an. Die Provinzpresse, ich weiß. Manchmal gehe ich ins Caffé degli Specchi und trinke einen Aperol und zähle die Passanten, die zielstrebig über die Piazza hasten.

Tauben sitzen auf den Tischen und picken am Mandelgebäck, flattern, Gläser fallen klirrend auf die Steinplatten, die Kellner sitzen hinter den Fensterscheiben. Sie schauen aufs Meer und schnipsen sich Erdnüsse in den Mund. Die Zeit verrinnt tropfenweise. Das also ist Triest, die einzige Hafenstadt Österreichs. Ein wenig verschroben und einsam ist sie geworden: Rom ist eben weit weg. Viel weiter jedenfalls als Laibach und Wien oder gar Galizien und Kiew.

Wenn ich morgens auf den Molo Audace schlendere, war ich schon im Hauptbahnhof an der Piazza delle Libertá, wo in den ehemaligen Güterumschlaghallen ab vier Uhr in der Früh Einkaufstouristen aus ganz Osteuropa nach billiger Elektronik suchen, nach Parfums und Markenschuhen. Früher kamen sie aus Slowenien und Kroatien, doch die sind satt und werden nun abgelöst von Ukrainern, Slowaken, Ungarn, die in wackeligen Bussen schon um zehn wieder die Heimfahrt antreten. Die Geschäfte im Bahnhofsviertel sind reich an ihnen geworden.

Andere Triestiner neiden ihnen das. Jedenfalls, so bedeutungslos wie der alte Hafen von Triest geworden ist, so wichtig sind nun die Schnäppchentouristen aus dem Osten. Die Triestiner rümpfen darüber die Nase, Triest ist am Meer groß geworden, sagen sie, es muss auch wieder hier wachsen. Aber wo? Im alten Hafen, rechts vom Stadtzentrum gelegen?

Einmal die Woche legt ein Schiff aus Nahost an, und dann klagen langgezogene Eselsschreie durch die verlassenen Speichergassen mit ihren Kandelabersäulen und rostigen, schmiedeeisernen Portiken – 1893, auf dem Höhepunkt triestinischer Mittelmeermacht, eingeweiht. Dann werden ein paar Grauesel verladen, und wieder zieht Ruhe für eine Woche ein, und nur in einigen Speicherböden sitzen Weinspediteure, die herben Malvasier aus Slowenien verkosten. Dann riecht es nach Essig.

Ein Bootsbesitzer pflegt seinen Kutter. Stille herrscht. Vor dem Hafentor steht die Hafenpolizei und beäugt jeden misstrauisch. Vom anderen Ende des Hafenquadrates sieht man den alten Leuchtturm, ein Werk von Peter Nobile aus dem Jahre 1833, da sitzt jetzt die Zollpolizei. Die sind noch misstrauischer als die Hafenpolizei. Am äußersten Ufer ist nicht viel los. Dabei war das ja mal ganz anders.

Nicht so museal.

Museen hat Triest viele. Sehr gut gefallen hat mir die alte Dame im Civico Museo del Mare, die mich schweigend wie ein Kapuzinermönch auf allen Etagen begleitete – natürlich war ich der einzige Besucher. Interessiert schaute sie sich an, was ich mir anschaute. Ich wagte kein Bild auszulassen, und so wurden wir Freunde. Wir tranken einen Macchiato zusammen, und sie zeigte mir begeistert ein Bild des Malers Guido Grimani, der für sein epochemachendes Werk „Fischer auf Sardellenfang“ (Öl auf Leinwand) 1902 auf der Internationalen Fischereiausstellung (!) in Wien (!!) die Silberne Staatsmedaille (!!!) erhielt.

Herr Grimani hatte einen Querschnitt durch die Adria gezeigt, und so kann man anschaulich betrachten, wie sich das Sardellennetz vom Boot aus unter Wasser auslegt, und man hört die Fischer im Boot ächzen, wie sie das Netz einholen, das sich da, maschengetreu gezeichnet, bis auf den Meeresboden schlängelt. Als ich mich verabschiedete, schenkte sie mir ein Flaschenschiff. Sie lächelte dabei. Gesagt hat sie kein Wort.

Manchmal gehe ich in die „Osteria Istriano“. Ich weiß auch nicht warum. Morgens ist es hier am langweiligsten. Minutenlang verschwindet der Wirt auf der Toilette, und ich betrachte die Plakate vom Lloyd Triestino und die alten Dampfschiffe und die Schifferknoten auf kleinen Holzbrettchen. Die „Osteria Istriano“ liegt in der Altstadt, nicht unweit vom alten Kastell, im ehemaligen Judenviertel. Hier kommen Fischerlein her und die wenigen Hafenarbeiter, die es noch gibt. Alles alte Männer. Es treffen sich auch die Fischhändler vom Fischmarkt, wo man keine Fische mehr kaufen kann, jedenfalls nicht mehr sehr viele.

Genno kommt, der Pinguinwächter aus dem Aquarium, das praktischerweise gleich neben der Fischhalle im selben Gebäude Domizil hat. Genno ist der Freund von Domino, dem Zügelpinguin, der in seinem kleinen Bassin jeden Tag hin und her watschelt und gelegentlich mit den Flügeln klappt. Domino ist der einzige Sohn von Zigo und Zago. Das Aquarium von Triest: Hinter dem Schalter sitzt eine Frau, die unablässig strickt, und im Innern gibt es ein paar verschlammte Behälter mit Aalen und Schildkröten, und überall fehlen Terrakottaplatten in der Verkleidung. Habe ich je ein trostloseres Aquarium gesehen, eines mehr verloren in der Zeit? Hier arbeitet Genno. Wenn er nicht bei Fabio in der Osteria sitzt.

Ein paar Meter entfernt vom Aquarium dient Federico. Federico ist der Bademeister von Triest. Oft steht er auf dem meerseitigen Balkon des Schwimmbades, pafft seine Zigarren, spuckt gelegentlich ins Hafenwasser. Sein dunkelblauer Kittel riecht nach Karbol und warmem Chlorwasser. Doch das riecht Federico längst nicht mehr. Und ist ihm auch egal. Alles an ihm stinkt ja nach der billigen Antisepsis. Seine kleine Wohnung im Stadtteil Rozzol Melara, sein winziges Büro, seine Aktentasche. Auch seine Zigarren, wahrscheinlich. Manchmal schaut Bruno in der Osteria vorbei. Daher kenne ich sie alle. Sie trinken Bier, keinen Wein. Davon versteht man in Triest nicht sehr viel. Abends essen sie „Kaiserfleisch“ und Würste mit Sauerkraut und Tiroler Kartoffeln. Sie reden nicht viel. Die Straßen sind still. Ich gehe zum Hafen zurück, in Richtung Uhrturm, von weitem sehe ich Bruno auf seiner Eistheke sitzen. Er liest.

Der Fischmarkt liegt zwischen Fährstation und städtischem Schwimmbad. Doch wie vieles in Triest, das etwas mit der Seefahrt zu tun hat, ist auch die Stazione Marittima verwaist. Alle zwei Tage kommt eine Autofähre aus Griechenland und spuckt dröhnende Lastwagen in das Stadtzentrum und jugoslawische Autos, die nicht durch ihre ehemaligen Landesteile fahren wollen, die nun zerschossen sind. Das ist die Gegenwart von Triest: Ausweichstation, obwohl der slowenische Hafen von Koper (früher: Capodistria) billiger ist, ebenso der kroatische von Rijeka (Fiume) – beide ehemals italienisch. Im Fischmarkt ist der Fisch zu teuer, manchmal sind nur zwei Stände in der prunkvollen Halle geöffnet, einige Rentner stehen unschlüssig vor den Tischen, kaufen ein paar Muscheln und Tintenfische. Die Verkäufer lächeln und putzen weiter ihre Ware, die vor Dalmatien gefangen wird oder im Atlantik, längst aber nicht mehr im Golf von Triest.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 12. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Volker Handloik und Gianni Berengo Gardin

Dies ist die dritte Folge unserer Serie Legendäre Hafenstädte. Bisher erschienen: Beirut (mare No. 10) und Odessa (mare No. 11).

Volker Handloik, geboren 1961, lebt in Berlin. In der DDR arbeitete er unter anderem als Fischereiarbeiter, Rangierer, Essayist und Redakteur. Seit 1989 schreibt er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine. Kürzlich brachte er im Aufbau-Verlag den Essayband Fünfzig Jahre DDR heraus. Handloiks letzter Beitrag in mare handelte von den „Steinfischern“ Brasiliens (No. 8).

Gianni Berengo Gardin, geb. 1930, lebt in Mailand. Er ist Fotograf der Agentur Contrasto und stellt unter anderem im Museum of Modern Art, New York, aus. Dies ist seine erste Arbeit exklusiv für mare

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Vita Dies ist die dritte Folge unserer Serie Legendäre Hafenstädte. Bisher erschienen: Beirut (mare No. 10) und Odessa (mare No. 11).

Volker Handloik, geboren 1961, lebt in Berlin. In der DDR arbeitete er unter anderem als Fischereiarbeiter, Rangierer, Essayist und Redakteur. Seit 1989 schreibt er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine. Kürzlich brachte er im Aufbau-Verlag den Essayband Fünfzig Jahre DDR heraus. Handloiks letzter Beitrag in mare handelte von den „Steinfischern“ Brasiliens (No. 8).

Gianni Berengo Gardin, geb. 1930, lebt in Mailand. Er ist Fotograf der Agentur Contrasto und stellt unter anderem im Museum of Modern Art, New York, aus. Dies ist seine erste Arbeit exklusiv für mare
Person Von Volker Handloik und Gianni Berengo Gardin
Vita Dies ist die dritte Folge unserer Serie Legendäre Hafenstädte. Bisher erschienen: Beirut (mare No. 10) und Odessa (mare No. 11).

Volker Handloik, geboren 1961, lebt in Berlin. In der DDR arbeitete er unter anderem als Fischereiarbeiter, Rangierer, Essayist und Redakteur. Seit 1989 schreibt er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine. Kürzlich brachte er im Aufbau-Verlag den Essayband Fünfzig Jahre DDR heraus. Handloiks letzter Beitrag in mare handelte von den „Steinfischern“ Brasiliens (No. 8).

Gianni Berengo Gardin, geb. 1930, lebt in Mailand. Er ist Fotograf der Agentur Contrasto und stellt unter anderem im Museum of Modern Art, New York, aus. Dies ist seine erste Arbeit exklusiv für mare
Person Von Volker Handloik und Gianni Berengo Gardin