„… etwas ganz verrückt besonderes“

Die in Berlin geborene und in Auschwitz ermordete Künstlerin Charlotte Salomon malte im französischen Exil ihr Leben – in mehr als 1300 Gouachen. Erst heute wird das monumentale Werk gewürdigt

Saint-Jean-Cap-Ferrat im Herbst 1941. Im grellen Mittagslicht folgt eine junge Frau mit müden Schritten der Avenue Denis Séméria hügelaufwärts. Vor der Pension „La Belle Aurore“ hält sie inne und überlegt lange, bevor sie anklopft. Nach bangen Sekunden öffnet ihr eine ältere, förmlich gekleidete Dame und bittet sie hinein. 

Wagt sie es, sich als Charlotte Salomon vorzustellen? Die Wirtin Madame Pécher würde sofort wissen, dass ihr Gegenüber gleich doppelt bedroht ist: Als Jüdin ist sie auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und als Deutsche vor der Internierung durch die französische Gendarmerie. 

Es ist ihr Glück, dass es zu Madame Péchers Prinzipien gehört, ihren Gästen nicht allzu viele Fragen zu stellen. Das Zimmer, das sie ihr zeigt, gleicht einer Klosterzelle. Gekalkte Wände, Bett, Tisch, Stuhl, ein kleiner Schrank, ein Waschbecken. Doch als Salomon die Holzläden vor dem Fenster zurückklappt, fluten Sonnenlicht, das Sirren von Zikaden und der herbe Duft von Pinien und Lavendel herein. Der Blick ist atemberaubend. Hügelabwärts liegen Gärten voller Palmen und Zypressen, darin ein loses Mosaik sonnengebleichter Ziegeldächer. Wo sie aufhören, beginnt der Hafen von Saint-Jean mit seinen in der Dünung schwankenden Booten, hinter dem sich die lichtgesprenkelte Endlosigkeit des Meers ausbreitet. Sie rückt den Stuhl ans Fenster und bleibt eine Stunde lang darauf sitzen. Dann geht sie hinunter und zahlt für drei Monate im Voraus. 

Das „Singespiel“
Zwischen 1940 und 1942 schuf Charlotte Salomon im südfranzösischen Exil ein spartenübergreifendes Gesamtkunstwerk, ein „Singespiel“, wie sie es nannte, ein Tagebuch in Bildern und Texten, das deutlich über das hinausgeht, was man gemeinhin unter diesem Begriff versteht. Sein Titel lautet „Leben? Oder Theater?“. Entstanden ist es in völliger Isolation, und es gehört durch seine Subjektivität und Originalität eindeutig zur Moderne. Es scheint im Austausch zu stehen mit Munch und Matisse, mit Chagall und Dubuffet. Bildern und Texten werden Gassenhauer, Opernarien und geistliche Musik zugeordnet, Melodien, die sie selbst beim Malen unablässig vor sich hin summte, während sie aus lediglich drei Farben, Gelb, Rot und Blau, sowie Weiß zum Aufhellen 1325 Gouachen im Format 32,5 mal 25 Zentimeter schuf. 

Die Vorgeschichte
Im Januar 1939 hatte sie 21-jährig ihre wohlbehütete Existenz als einzige Tochter Albert Salomons, Professor der Medizin in Berlin, hinter sich gelassen und war zu ihren Großeltern nach Südfrankreich geflohen. Man hatte ihren Vater aus dem Operationssaal heraus ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und krank, kehrte er nach drei Wochen zurück, und die Familie begriff, dass weder seine Verdienste im Ersten Weltkrieg noch der Ruhm seiner zweiten Ehefrau, der Sängerin Paula Lindberg-Salomon, sie vor der Verfolgung durch die Nazis schützen konnten. An der Côte d’Azur glaubte man zumindest die Tochter in Sicherheit. 

Ihre Großeltern, Sanitätsrat Dr. Ludwig Grünwald und seine Frau Marianne, hatten dem Deutschen Reich bereits 1933 den Rücken gekehrt. Die vermögende Amerikanerin Ottilie Moore überließ ihnen ein Haus auf dem Grundstück ihrer Villa „L’Ermitage“ in Villefranche-sur-Mer, ein in den Hügel gewachsenes Kleinod mit Aussicht. Im abgedunkelten Schlafzimmer verfolgte Charlottes Großmutter mit wachsender Angst die Rundfunknachrichten. Die Enkelin saß zeichnend unter den Bäumen des Parks, sonnte sich im Licht, das schon so viele Maler vor ihr nicht mehr losgelassen hatte, schwamm in einem türkisfarbenen Meer, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte, bevor sie es mit eigenen Augen sah. Mitbewohner der „Ermitage“ beschreiben sie später als „nicht von dieser Welt“. Ihr Spitzname war „die Stumme“. Nur mit Ottilie Moore verband sie eine Art Freundschaft. Die exzentrische Amerikanerin verbarg nicht nur das Ehepaar Grünwald auf ihrem Anwesen, sondern bot auch einer größeren Zahl jüdischer Kinder Zuflucht. 


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mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Kerstin Ehmer

Kerstin Ehmer, Jahrgang 1965, studierte Filmwissenschaft, Amerikanistik und Philosophie und ist ausgebildete Fotografin. Sie lebt in Berlin, wo sie neben ihrer Arbeit als Reportagejournalistin und Buchautorin auch Mitinhaberin der legendären „Victoria Bar“ ist. Im mareverlag erschien 2023 ‚Diese Freiheit bedeutet mir alles‘. Das Leben der Kathleen Scott.

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Vita Kerstin Ehmer, Jahrgang 1965, studierte Filmwissenschaft, Amerikanistik und Philosophie und ist ausgebildete Fotografin. Sie lebt in Berlin, wo sie neben ihrer Arbeit als Reportagejournalistin und Buchautorin auch Mitinhaberin der legendären „Victoria Bar“ ist. Im mareverlag erschien 2023 ‚Diese Freiheit bedeutet mir alles‘. Das Leben der Kathleen Scott.
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Vita Kerstin Ehmer, Jahrgang 1965, studierte Filmwissenschaft, Amerikanistik und Philosophie und ist ausgebildete Fotografin. Sie lebt in Berlin, wo sie neben ihrer Arbeit als Reportagejournalistin und Buchautorin auch Mitinhaberin der legendären „Victoria Bar“ ist. Im mareverlag erschien 2023 ‚Diese Freiheit bedeutet mir alles‘. Das Leben der Kathleen Scott.
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