Es werde Licht

Mit der Verbreitung der Leuchttürme vollzog die Menschheit ein Stück Schöpfungsgeschichte nach

Leuchttürme haben eine Tagseite und eine Nachtseite. Ihr Zweck ist der selbe, doch sind die Mittel, die er heiligt, recht verschieden. Bei meinem Großvater stellte das Leben als Leuchtturmwärter von Juelssand den konventionellen Blick der Gesellschaft einigermaßen auf den Kopf.

Tagsüber, wenn sein weißes „Schloss auf der Warft“ weithin sichtbar über den Elbmarschen stand, war er eben nur ein Tagelöhner. Im Stall hinter dem Turm versorgte er das Schwein, das sein armseliges Salär in Naturalien aufbesserte, und unten auf der Marsch hütete er die Gänse ein. Nachts, wenn das Prunkstück im Dunkel versank, war mein Großvater oben im Laternenhaus mit seinem Lichtstrahl der heimliche Herrscher über den interkontinentalen Schiffsverkehr. Er hätte 100000-Tonnen-Tanker stranden lassen können. Ich bewunderte ihn in mondlosen Nächten so sehr, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken lief.

Leuchttürme sind häufig an den exponiertesten schönwilden Stellen in der Natur errichtet, erzählen Geschichten von der Rettung armer Seelen oder von deren Untergang. Ihre eigentliche Bedeutung aber gewinnen sie als Nachtmarken. Die ersten festen Orientierungsfeuer leuchteten etwa ab der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus in der Ägäis. Viel wissen wir nicht über sie, Relikte sind spärlich. Immerhin, seither wiederholen die seefahrenden Nationen mit ihrer Verbreitung im Mittelmeer und jenseits der Säulen des Herakles ein Stück Schöpfungsgeschichte in der ausgreifenden zivilisierten Welt. Wir haben die Worte im Ohr: Am Anfang war die Erde wüst und leer. Und Gott sprach: Es werde Licht.

Die Wasserwüsten der Ozeane sind ein riesiger, in unsere Gegenwart reichender dunkler Rest aus Schöpfungstagen. Küstenbewohner in Europa, sei es im warmen Spanien wie im kalten England oder Deutschland, gingen früher nie in der See baden. Selbst die Fischer unter ihnen konnten nicht schwimmen. Bis heute liegen die breiten Außenstrände und Dünenketten der Nordseeinseln nach der Saison erstaunlich öde und von den Einheimischen gemieden dar. Gott- und lichtverlassene Gebiete betraten die Insulaner nur zur Jagd, sei es auf tierische Beute oder auf das Strandgut schiffbrüchiger Christenmenschen.

Joseph Conrad nannte die See mit einem Sonnenuntergangsblick den „Spiegel der Unendlichkeit“. Das klingt nach Ästhetik, dem Gefühl der Erhabenheit. Jeder empfindende Charakter kennt diese Regung bei der Perspektive vom Strand einer Insel oder von Bord eines Schiffes hin zum Horizont. Für den Seemann hat das scheinbar Unendliche der See etwas existenziell Bedrohliches. Nichts birgt eine größere Gefahr – nicht bloß sich zu verirren, sondern sich in diesem Spiegel vollkommen zu verlieren. Im Unendlichen lauert der Urabgrund, der verschlingt und gebiert, der das Ende und der Anfang zugleich ist. Das sind keine menschlichen Kategorien mehr, es ist die Sprache der Sonnen und Vulkane und der Riesenkraken.

Nacht und Nebel besiegeln die Formlosigkeit, verschleiern den Abgrund. Deshalb befuhren die Piloten der Einbäume und der ersten Segler die See Jahrtausende lang nur bei Tage und auf Sichtweite der Küste. Die Geschichte der Seefahrt ist ein einziges großes Ringen um die Überwindung der Dunkelheit. Bis in das Zeit-alter der Entdeckungen, als Europa begann, über seine Küsten hinaus zu greifen, lagen die Ozeane auch metaphysisch gesehen im Dunkeln. Sie waren entsprechend mit dem ganzen Theaterpersonal des Unbewussten ausstaffiert. Auf jeder Seekarte des ausgehenden Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert hausten Ungeheuer.

Die portugiesischen Seeleute des Mittelalters wussten genau, wo das „Meer der Finsternis“ begann, nämlich südlich der Kanaren und von Kap Bojador an der westafrikanischen Küste. Als Gil Eannes 1434 im Auftrage Heinrichs des Seefahrers Kap Bojador umsegelte, ohne von der Dun-kelheit verschlungen zu werden, war die geistige Erschütterung, die durch Portugal ging, größer als später diejenige, die die Entdeckung Amerikas auslöste.

Seit den Zeiten von Gil Eannes und Heinrich dem Seefahrer manifestiert sich die Aufklärung der Welt in einer unglaublichen Flut von europäischen Namen, die sich über den Globus ergießt, und in der Aufstellung von immer mehr Leuchttürmen an ihren Küsten. Es ist der uralte Trieb, das Chaos und die Monster der inneren und äußeren Geografie zu zähmen, indem man sie der Herrschaft der Sprache und des Lichts unterwirft.

Das hatte allerdings eine Kehrseite. Mit der Auswanderung der Schauerwesen aus der Welt der Inseln und Ozeane verschwand auch das sagenhafte Glück. Nicht nur El Dorado, sondern viele Inseln der Glückseligen lösten sich von ihren angestammten Orten. So wie Mayda, die das längste aller Kartenleben führte. Die Insel Mayda lag ursprünglich südwestlich von Irland und verzog mit jeder neuen Karte immer weiter westlich auf den Atlantik. 1566 erreichte sie die Wasser vor Neufundland. Als auch die amerikanische Küste von immer mehr Leuchttürmen aufgehellt wurde, wich Mayda nach Süden aus, erreichte dann 1814 westindische Breiten, um zuletzt, ganz geblendet von so viel Enlightenment, Aufklärung, aus dieser Welt zu gehen.


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mare No. 23

No. 23Dezember 2000 / Januar 2001

Ein Essay von Reimer Eilers

Reimer Eilers, Jahrgang 1967, ist promovierter Volkswirt und freier Schriftsteller. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und lebt in Hamburg. In mare No. 20 erschien die Besprechung seines Gedichtbandes Die Entdeckung des Meeresleuchtens (Agimos Verlag, Kiel 2000)

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Vita Reimer Eilers, Jahrgang 1967, ist promovierter Volkswirt und freier Schriftsteller. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und lebt in Hamburg. In mare No. 20 erschien die Besprechung seines Gedichtbandes Die Entdeckung des Meeresleuchtens (Agimos Verlag, Kiel 2000)
Person Ein Essay von Reimer Eilers
Vita Reimer Eilers, Jahrgang 1967, ist promovierter Volkswirt und freier Schriftsteller. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und lebt in Hamburg. In mare No. 20 erschien die Besprechung seines Gedichtbandes Die Entdeckung des Meeresleuchtens (Agimos Verlag, Kiel 2000)
Person Ein Essay von Reimer Eilers