„Er liebte das Meer über alles“

Sean Hemingway, Kustos in New York, Enkel des Schriftstellers und Finder des Manuskripts der Erzählung „Streben als Glück“, spricht über die Umstände der Entdeckung, über den politischen Hintergrund der Erzählung und Hemingways Verhältnis zum Meer

Die Erzählung „Streben als Glück“ Ihres Großvaters Ernest Hemingway ist ein später Fund. Sie erschien erstmals 2020 im „New Yorker“ und nun in mare in der deutschen Fassung des Hemingway-Übersetzers Werner Schmitz. Wie und wo wurde der Text entdeckt?


Im Archiv des John-F.-Kennedy-Museums in Boston. Dort befindet sich der größte Teil des Nachlasses meines Großvaters. Als ich eine neue Ausgabe von „Der alte Mann und das Meer“ vorbereitete, ging ich durch die reiche Sammlung von Manuskripten, Briefen, Fotografien und Logbüchern. Es gibt von diesem Text nur ein einziges Manuskript mit handschriftlichen Notizen meines Großvaters. Ich war sehr überrascht, es zu finden, und es war mir schnell klar, dass es die neue Edition wunderbar ergänzen würde. Neben ein paar autobiografischen Texten aus dem Zweiten Weltkrieg ist es eine der wenigen bislang unveröffentlichten Hemingway-Geschichten. Ich habe keine Ahnung, warum sie so wenig Beachtung fand; für mich ist sie ein wahres Juwel.

Die Geschichte scheint autobiografisch: Der Erzähler wird „Ernest“ genannt, er geht fischen mit „Mr. Josie“. So nannte Ernest Hemingway seinen Freund Joe Russell, mit dem er in Kuba häufig zum Fischen aufs Meer gefahren ist. Was lässt Sie dennoch annehmen, dass dieser Text fik­tional ist?


Ich finde es schwierig, ihn klar einzuordnen, eben weil er autobiografische Elemente enthält, dennoch ist er für mich eher Fiktion. Er ist kunstvoll und mit großer Sorgfalt komponiert, er wirkt wie ein literarisches Werk. Mein Groß­vater hat sogar seine eigenen Memoiren „Paris – ein Fest fürs Leben“ als Fiktion bezeichnet, er schrieb, ein erfundenes Werk könne genauso gut wahre Geschehnisse beleuchten. Es ist durchaus möglich, dass ihn ein bestimmter Angelausflug dazu inspiriert hat. Aber es ist wahrscheinlicher, dass mehrere Erlebnisse in den Text eingeflossen sind und er sie mit Erdachtem angereichert hat, um eine echte Erzählung daraus werden zu lassen.

Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund politischer Unruhen in Havanna. Mr. Josie gerät mehrmals mit der Polizei aneinander – zunächst als diese versucht, den Fang zu beschlagnahmen, dann als einer von „Machados spezieller Polizeitruppe“ in einer Bar handgreiflich wird. Gerardo Machados Regierung wurde im Sommer 1933 gestürzt. Wie wichtig war Hemingway wohl der politische Kontext der Geschichte?

Hemingway war Zeuge der Straßenkämpfe in Kuba 1933, bei denen junge Aktivisten erschossen wurden, die gegen das Regime von Machado protestierten. Die politischen Unruhen stehen zwar nicht im Zentrum der Erzählung, doch der Kontrast zur angespannten Stimmung an Land lässt das Glück, dass die beiden Angler auf See empfinden, noch eindringlicher wirken. Sie verschenken außerdem ihren gesamten Fang an die Einheimischen, auch das bekommt in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung.
Die Geschichte spielt 1933. Sie glauben jedoch, dass sie erst einige Jahre später verfasst wurde. Ist sie möglicherweise eine Art Vorarbeit zu seinem berühmtesten Buch „Der alte Mann und das Meer“?

Viele Elemente in dem Text weisen darauf hin, dass Hemingway ihn lange nach 1933 geschrieben hat. Es ist aber wirklich schwer, sich da festzulegen. Ich würde seine Entstehung irgendwo zwischen 1936 und 1956 ansiedeln. Ich sehe ihn nicht als Vorstufe zu seinem großen Roman, aber natürlich gibt es Parallelen. Es geht hier ebenso darum, einen großen Marlin zu fangen, und es wird deutlich, wie schwer dieses Unterfangen ist, selbst mit moderner Ausrüs­tung, einem Motorboot und erfahrenen Fischern.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 152. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 152

mare No. 152Juni / Juli 2022

Von Deborah Treisman und Martina Wimmer

Sean Hemingway, Jahrgang 1967, ist eines von insgesamt zwölf Enkelkindern Ernest Hemingways. Er arbeitet als Museumskurator in New York.

Deborah Treisman, Jahrgang 1970, wurde 2003 Fiction Editor von The New Yorker, nachdem sie 1997 als stellvertretende Fiction Editor zum Magazin gekommen war. Sie ist Gastgeberin des preisgekrönten New Yorker Fiction Podcast und Herausgeberin der Anthologie 20 Under 40: Stories from The New Yorker (Farrar, Straus, 2010).

Martina Wimmer, geboren 1965 in Oberbayern, wohnhaft in Berlin. War Redakteurin bei ME/Sounds, freie Journalistin in New York und ist seit 1995 Mitglied des Journalistenbüros Schön & Gut. Schreibt als freie Autorin u.a. für Geo Saison, Greenpeace Magazin, SZ-Magazin und Merian und veröffentlichte im März 2008 ihr drittes Buch.

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Vita Sean Hemingway, Jahrgang 1967, ist eines von insgesamt zwölf Enkelkindern Ernest Hemingways. Er arbeitet als Museumskurator in New York.

Deborah Treisman, Jahrgang 1970, wurde 2003 Fiction Editor von The New Yorker, nachdem sie 1997 als stellvertretende Fiction Editor zum Magazin gekommen war. Sie ist Gastgeberin des preisgekrönten New Yorker Fiction Podcast und Herausgeberin der Anthologie 20 Under 40: Stories from The New Yorker (Farrar, Straus, 2010).

Martina Wimmer, geboren 1965 in Oberbayern, wohnhaft in Berlin. War Redakteurin bei ME/Sounds, freie Journalistin in New York und ist seit 1995 Mitglied des Journalistenbüros Schön & Gut. Schreibt als freie Autorin u.a. für Geo Saison, Greenpeace Magazin, SZ-Magazin und Merian und veröffentlichte im März 2008 ihr drittes Buch.
Person Von Deborah Treisman und Martina Wimmer
Vita Sean Hemingway, Jahrgang 1967, ist eines von insgesamt zwölf Enkelkindern Ernest Hemingways. Er arbeitet als Museumskurator in New York.

Deborah Treisman, Jahrgang 1970, wurde 2003 Fiction Editor von The New Yorker, nachdem sie 1997 als stellvertretende Fiction Editor zum Magazin gekommen war. Sie ist Gastgeberin des preisgekrönten New Yorker Fiction Podcast und Herausgeberin der Anthologie 20 Under 40: Stories from The New Yorker (Farrar, Straus, 2010).

Martina Wimmer, geboren 1965 in Oberbayern, wohnhaft in Berlin. War Redakteurin bei ME/Sounds, freie Journalistin in New York und ist seit 1995 Mitglied des Journalistenbüros Schön & Gut. Schreibt als freie Autorin u.a. für Geo Saison, Greenpeace Magazin, SZ-Magazin und Merian und veröffentlichte im März 2008 ihr drittes Buch.
Person Von Deborah Treisman und Martina Wimmer