Einmal über die Strasse

Der Ärmelkanal gilt als „Mount Everest“ der Marathonschwimmerinnen und -schwimmer. Aber Kondition, Mut und mentale Kraft ­allein reichen nicht. Es braucht auch gute Lotsen für den Erfolg

An klaren Tagen kann man die Küste Frankreichs sehen. Oberhalb der weißen Klippen von Dover, jenem ikonischen Küstenabbruch, der wie nichts anderes die Trenn­linie zwischen der britischen Insel und dem europäischen Kontinent schärft, zerstreuen sich Personen auf angelegten Pfaden. Ortsansässige mit Hunden, die den Weg kennen, Touristen, die Telefone schwenkend bedenklich nah an der Kante taumeln, Jogger in ehrgeizig neonleuch­tender Montur. Auf dem tiefblauen Wasserstreifen, der die Aussicht quert, verlieren sich die Silhouetten großer Frachter, als wären sie Klötze in einem antiquierten Videospiel. Wer Zeit hat in Dover, steigt dort hinauf und schaut hinunter. Doch nicht jeder sieht von hier oben dasselbe. 

Sie reisen an vom anderen Ende der Welt und aus der weiteren Nachbarschaft, im Familienclan, mit Coach und Ernährungstabelle oder mutterseelenallein. Mit einem Traum, einer fixen Idee, einem Versprechen an sich selbst oder an Spender und Sponsoren. Es kann ja alles Mögliche sein, das die Menschen dazu bringt, scheinbar Unmögliches zu versuchen. Mangelndes Selbstvertrauen, Trotz, Hybris, Wut, Demut, Komplexe, zu viel Vergangenheit, zu wenig Zukunft, der Kampf um das Leben oder gegen die Vergänglichkeit, eine seltene Selbsterkenntnis, eine schnelle Laune, die sich auswächst zu einem Trainingsplan. Den zwingend braucht, wer durch den Ärmelkanal schwimmen will.

The English Channel nennen die Briten ein wenig besitzergreifend den 560 Kilometer langen Arm des Atlantischen Ozeans, der zwischen Leathercoat Point und dem Leuchtturm von Walde die Nordsee berührt; La Manche, der Ärmel, halten die Franzosen mit mehr Sinn fürs Bildhafte dagegen. Das Gewässer, das sie trennt, ist an seiner schmalsten Stelle eines der meistbefahrenen der Welt. An die 500 Schiffe passieren täglich die Straße von Dover in westlicher und östlicher Richtung, bis zu 60-mal pendeln Fähren die 34 Kilometer zwischen Dover und Calais. 

Um da etwas Ordnung hineinzubringen, hat die Weltschifffahrtsorganisa­tion 1967 ein Verkehrsleitsystem eingeführt, das wie eine zweispurige Landstraße funktioniert. In der nördlichen Hälfte fahren die Schiffe Richtung Atlantik, in der südlichen zur Nordsee, in der Separation Zone dazwischen hat keiner, der auf der Durchreise ist, etwas verloren, zu nah an den Küsten auch nicht. Jedes Schiff, das in die Straße einfahren will, muss seine Daten an die Behörden übermitteln. Rund um die Uhr wird die Engstelle von der britischen und der französischen Küsten­wache kontrolliert. 

Für eine handverlesene Zahl von Menschen und Booten allerdings gelten andere Regeln. In der Marina von Dover macht Stuart Gleeson die „Sea Leopard“ für die nächste Fahrt klar, und es ist kaum zu glauben, wie klein dieses Schiff ist, das sich in der kommenden Nacht im Stock­fins­teren mit einem Schwimmer an der Seite quer durch die Warenströme Europas schlängeln soll. Gleeson ist Eigner und Kapitän des stämmigen Zehn-Meter-Kahns mit sehr beengtem Steuerhaus. Kurze graue Haare, joviales Grinsen, makelloses blaues Poloshirt mit Eigenwerbung auf der Brust, einer von denen, die immer etwas wacher wirken als der Rest der Welt. 

Und das, obwohl er in seinen Kern­arbeitszeiten von Juni bis Oktober eher wenig schläft. Weil er im Einsatz seine Konzentration über zehn, 15 oder 25 Stunden halten muss. Weil er mindestens viermal am Tag das Wetter checkt auf mehreren Karten, hüben und drüben. Weil er die Tiden seines Gewässers im Kopf haben muss, ohne darüber nachzudenken. Weil er Menschenleben schützt, im Ernstfall auch rettet. Dabei hauptberuflich Träume wahr werden lässt. Oder die einsame Entscheidung trifft, sie zu vernichten. Es geht dabei um sehr viel mehr, als nur den rechten Weg zu kennen, da mutet es ein wenig despektierlich an, dass man Bootsführer, die Schwimmer über den Ärmel­kanal begleiten, in diesem Kontext Lotsen nennt. 

Die anderen, die sich je nach Perspektive dem Wahnsinn oder einer außergewöhnlichen Lebensleistung verschrieben haben, nennen die Überquerung des Ärmelkanals den „Mount Everest des Marathonschwimmens“. Es ist nicht die längste Distanz, die man sich in dieser ­Disziplin vornehmen kann, und es gibt Strecken, zwischen den hawaiianischen Inseln Oahu und Molokai etwa, wo die Schwimmer nicht nur gegen die Erschöpfung, sondern auch gegen ihre Angst vor Haien ankämpfen müssen. Im Ärmelkanal ist das Unwägbare subtiler, das ganze Unternehmen eine Gleichung mit sehr vielen Unbekannten. Der Lotse ist dabei so etwas wie das Rechenzentrum. 

Geht die Rechnung auf, kann man auf dem Monitor in Stuarts Steuerkabine eine zart geschwungene Linie sehen, von Samphire Hoe Beach hinüber zum Cap Gris-Nez. Dann war sein Boot zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um dem Wechsel der Gezeiten zu begegnen, um auf der französischen Seite nicht am Cap vorbeizudriften, weil die Strömung stärker ist als zwei Arme und zwei Beine, die einen Körper schon sehr lange in Bewegung halten. Er kann ja nur so schnell fahren, wie der Mensch neben ihm schwimmt.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 156. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.


mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Martina Wimmer und Jan Windszus

Fotograf Jan Windszus war fasziniert vom Durchhaltevermögen der Schwimmer/innen und der mentalen Kraft, die neben der physischen nötig ist.

mare-Redakteurin Martina Wimmer liebäugelt seither mit der Idee des Kaltwasserschwimmens, zumindest den professionell wärmenden Badeponcho hat sie schon gekauft.

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