Eine unverschämte Weltreisende

Der Hafen gehört der Ratte, überall. Ein Porträt

Ratten und Mäuse sind Dank ihrer Zudringlichkeit als Gäste des Menschen in ihrem Treiben und Wesen nur zu bekannt. Unter ihnen finden sich jene Arten, welche mit den Menschen über die ganze Erde gezogen sind und sich gegenwärtig auch auf den ödesten Inseln angesiedelt haben. Es ist noch nicht so lange her, dass diese Weltverbreitung der Tiere stattfand; gegenwärtig aber haben sie ihre Rundreise um den Erdball vollendet. Nirgends dankt ihnen der Mensch die unverwüstliche Anhänglichkeit, überall verfolgt und hasst er sie auf das schonungsloseste; alle Mittel setzt er in Bewegung, um sich von ihnen zu befreien; und dennoch bleiben sie ihm zugetan, treuer noch als der Hund.

In unserem Vaterlande wohnen noch immer beide Rattenarten hier und da nebeneinander. Diese beiden Arten sind die gewöhnliche Hausratte und die Wanderratte. Erstere (Mus Rattus) ist ziemlich einfarbig. Die Oberseite ihres Körpers und des Schwanzes ist dunkelbraunschwarz. Alte, ausgewachsene Männchen werden ungefähr 13 Zoll lang, hiervon kommen sechs Zoll auf den Leib.

Wann diese Art eigentlich zuerst in Europa erschienen ist, lässt sich mit Gewissheit nicht bestimmen. In den Schriften der Alten hat man bis jetzt noch keine Stelle aufgefunden, welche auf die Hausratte bezogen werden könnte. Albertus Magnus ist der erste Tierkundige, welcher sie als deutsches Tier aufführt; demnach war sie also im zwölften Jahrhundert bereits bei uns heimisch. Möglicherweise stammt sie, wie ihre stärkere Schwester, aus Persien, wo sie noch gegenwärtig in unglaublicher Anzahl vorkommt. Bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts genoss sie in Europa die Alleinherrschaft; von dieser Zeit an hat ihr die Wanderratte das Gebiet streitig gemacht, und damit ist sie auch mehr und mehr zurückgedrängt und ausgerottet worden. Doch ist sie auch zur Zeit noch so ziemlich über alle Teile der Erde verbreitet, vielleicht mit Ausnahme der kältesten Länder; aber sie kommt nicht mehr in geschlossenen Massen vor.

Die Wanderratte (Mus decumanus) ist um ein Beträchtliches größer, nämlich gegen 16 Zoll lang, wovon auf den Schwanz nur sieben Zoll kommen. Ihre Färbung ist auf der Ober- und Unterseite des Leibes verschieden; sie ist zweifarbig. Der ganze Oberteil des Körpers und Schwanzes ist bräunlichgrau, die Unterseite scharf abgesetzt grauweiß.

Mit großer Wahrscheinlichkeit lässt sich annehmen, dass das ursprüngliche Vaterland der Wanderratte Mittelasien gewesen ist. Der Schriftsteller Aelian sagt, dass sie unter dem Namen der kaspischen Maus zu gewissen Zeiten in unendlicher Menge einwandert, ohne Furcht über die Flüsse schwimmt und sich dabei mit dem Maule an den Schwanz des Vordermannes hält.

Erst Pallas beschreibt die Wanderratte mit Sicherheit als europäisches Tier. Er berichtet, dass sie im Herbst 1727 in Europa eingerückt sei. Sie setzte bei Astrachan in großen Haufen über die Wolga und verbreitete sich von hier rasch nach Westen hin. Fast zu derselben Zeit, im Jahre 1732 nämlich, wurde sie auf Schiffen von Ostindien aus nach England herüber verschleppt, und nunmehr begann sie auch von hier aus ihre Weltwanderung. In Deutschland war sie schon 1780 überall häufig. Im Jahre 1775 wurde sie nach Nordamerika verschleppt und erlangte hier ebenfalls in kürzester Zeit eine unglaublich große Verbreitung. Wann sie in Spanien und in Afrika erschien, ist nicht zu bestimmen; soviel steht aber fest, dass sie gegenwärtig auch über alle Teile des großen Weltmeeres verbreitet und selbst auf den ödesten und einsamsten Inseln zu finden ist.

Sie leben im Stall, in der Scheuer, im Hof, im Garten, an Flussufern, an der Meeresküste, in Kanälen, den unterirdischen Ableitungsgräben größerer Städte, kurz überall, wo sie nur leben können. Ausgerüstet mit allen Begabungen in leiblicher und geistiger Hinsicht, welche sie zu Feinden des Menschen machen können, sind sie unablässig bemüht, diesen zu quälen, zu plagen, zu peinigen, und fügen ihm ohne Unterbrechung den empfindlichsten Schaden zu. Gegen sie schützt weder Hag noch Mauer, weder Tür noch Schloss. Wo sie keinen Weg haben, bahnen sie sich einen; durch die stärksten Eichenbohlen und durch dicke Mauern nagen und wühlen sie sich hindurch. Nur wenn man die Grundmauern tief einsenkt in die Erde, mit festem Zement alle Fugen zwischen den Steinen ausstreicht und vielleicht zur Vorsorge noch zwischen dem Gemäuer eine Schicht von Glasscherben einfügt, ist man vor ihnen sicher.

Der Mensch isst nichts, was die Ratten nicht auch fräßen, und nicht beim Essen bleibt es, sondern es geht auch an das, was der Mensch trinkt. Es fehlt bloß noch, dass sie sich in Schnaps berauschen: – dann würden sie sämtliche Nahrungsmittel, welche das menschliche Geschlecht bis jetzt angewandt hat, treulich mitvertilgen helfen. Die schmutzigsten Abfälle des menschlichen Haushaltes sind den Ratten unter Umständen noch immer recht. Das verfaulende Aas findet an ihnen Liebhaber. Sie fressen Leder und Horn, Körner und Baumrinde, oder besser gesagt, alle nur denkbaren Pflanzenstoffe, und was sie nicht fressen können, das zernagen sie wenigstens. Es sind verbürgte Beispiele bekannt, dass sie kleine Kinder bei lebendigem Leib angefressen haben, recht fetten Schweinen fressen sie Löcher in den Leib, dicht zusammengeschichteten Gänsen die Schwimmhäute zwischen den Zehen weg, auf den Eiern brütenden Truthennen Löcher in die Schenkel und auf den Rücken; junge Enten ziehen sie ins Wasser, ersäufen sie dort und holen sie dann ganz ruhig, unbekümmert um die Anstrengung der Alten, an das Land, dort behaglich sie verspeisend.


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mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Alfred E. Brehm

Alfred Edmund Brehm (1829 –1884) wurde durch sein Standardwerk der Zoologie, Illustriertes Tierleben, berühmt. Die zehn Bände erschienen 1876 – 79.

Sabine Völkers, geboren 1967 in Stade, studierte an der Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg, und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Für mare No. 7 zeichnete sie trotzige Meuterer

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Vita Alfred Edmund Brehm (1829 –1884) wurde durch sein Standardwerk der Zoologie, Illustriertes Tierleben, berühmt. Die zehn Bände erschienen 1876 – 79.

Sabine Völkers, geboren 1967 in Stade, studierte an der Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg, und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Für mare No. 7 zeichnete sie trotzige Meuterer
Person Von Alfred E. Brehm
Vita Alfred Edmund Brehm (1829 –1884) wurde durch sein Standardwerk der Zoologie, Illustriertes Tierleben, berühmt. Die zehn Bände erschienen 1876 – 79.

Sabine Völkers, geboren 1967 in Stade, studierte an der Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg, und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Für mare No. 7 zeichnete sie trotzige Meuterer
Person Von Alfred E. Brehm