Eine gewisse Sehnsucht zu fliegen

Der Ingenieur Otto Lilienthal studierte zeitlebens den Flug der Möwe. Nach ihrem Vorbild wollte er dem Menschen Flügel verleihen

Wer ausser Kindern – und einigen großen Kindern, wie sie sich oft in Naturwissenschaften finden – glaubt noch in einer Zeit, in der die Wildnis überwunden scheint, dass die Naturbeobachtung uns etwas über den Sinn der Dinge verrät? Oder auch nur, dass sie uns lehren könnte, auf welchem Weg man einem solchen Sinn – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Die Erregung durch Neugier und Erkenntnis, die Prüfungen, die das Erlebnis der Wissenschaft bereithält, dass man verlacht wird und Rückschläge an Abgründe führen: Das alles ist ohne diesen seltsamen, von Außenstehenden belächelten Rausch, ohne Leidenschaft, wie die Wissenschaft es kennt, kaum durchzumachen.

Otto Lilienthal glaubte den Dingen auf die Spur zu kommen, erlebte den Rausch, und in verschiedenen Graden machte er ihn durch über 40 Jahre. Als Junge in Vorpommern, der staunend die Möwen beobachtete; als Ingenieurstudent, der sich die Finger wundschrieb mit Zahlen und Zeichnungen; als Fabrikant, der er vielleicht nur wurde, um Flugapparate zu bauen; zuletzt als Flieger, höchste Form des Rausches. Ohne Lilienthal hätte die Geschichte des Fliegens anders und später begonnen.

Lilienthal, geboren 1849, wuchsen früh die Flügel. Sein Vater, Tuchhändler in Anklam, ein kräftiger, sinnenfroher Mann, den Ideen der Märzrevolutionäre zugetan, lehrte den Jungen und dessen Bruder Gustav das Glück eines mutigen und optimistischen Lebens. Die Mutter, eine moderne, gebildete Frau, die aus Liebe zu ihrem Tuchhändler eine Karriere als Opernsängerin in Berlin aufgegeben hatte, gab Fantasie, Geist und Sinn für Kunst und Wissenschaft. Jeden Abend las sie den Kindern vor, Geschichten, die die Sinne reizten: die Abenteuer des Luftschiffers Graf Zambeccari und vom Storch, der dem Zaunkönig erzählt, wie er so schön fliegen kann. Fliegen wie ein Vogel, das ließ die beiden nicht los. Auch nicht, als ihr Vater starb.

Als wollten sie nichts eiliger, als in seinen Himmel zu stürmen, stoben sie jeden Sommer Stunden durch die Karlsburger Heide, um Möwen und Störche zu studieren. Sie zeichneten und bastelten mit dem glühenden Eifer von Kindern an Flügeln aus Buchenlatten und Gänsefedern und übten vor den Toren der Stadt, sich wie die Vögel in die Luft zu heben. Otto war ein mäßiger Gymnasiast, aber als Maschinenbauschüler in Potsdam der Beste. Hier wurden die Träume zu Tinte. Er zeichnete und konstruierte, was ihm in den Sinn kam, zumeist war es der Flug der Vögel. Baute einen Apparat, mit dem er ebene Flächen rotieren ließ, um deren Luftwiderstand zu erproben, baute mit Gustav ein Flügelschlaggerät, so abenteuerlich wie sein erdachter Zweck. Wieder reichten nicht die Kräfte, aber wenigstens für einen Meter Steighöhe. Es müsste alles noch genauer gemessen werden.

Er wurde Ingenieurstudent in Berlin, um das Fliegen zu erfinden. Willkürlich, nicht wie die träge schwebenden Ballone, die Leichter-als-Luft-Flieger, die er als Gardefüsilier im Deutsch-Französischen Krieg sah. Mit Feldpost schickte er seinen Aufruf an den Bruder: Jetzt werden wir es machen, aber schwerer als Luft! Nirgends sah er ein Naturgesetz, das unüberwindbar vor der Lösung des Flugproblems stand.

Nichts Verrücktes war an ihm. Sein Schwärmen für Reformerisches war ihm vom Vater mitgegeben, aber er genoss die Wonnen des Bürgers. Der erfolgreiche Ingenieur mit etlichen Patenten, der er inzwischen war, heiratete, zeugte Kinder – und doch forschte er in jeder freien Minute: entschlüsselte die Geheimnisse des Flugs der Möwen und Störche, belegte als Erster, wie der gewölbte Flügel der ebenen Fläche überlegen ist, entwickelte die bis heute gültigen Polardiagramme, die die Aerodynamik des Flügels darstellen. Und ärgerte sich, dass eine Regierungskommission unter dem großen Helmholtz dem Menschen kategorisch die Möglichkeit absprach, nach der Art der Vögel zu fliegen. So sehr, dass er sich in einem Vortrag dem Reichskanzler der Physik widersetzte. Der Erfolg war mäßig. Und Aufsehen erregten die anderen, die Leichter-als-Luft-Flieger. Verlachtsein, Rückschläge, Abgründe.


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Karl J. Spurzem

Karl J. Spurzem ist Chef vom Dienst bei mare. Während seiner Recherchen im sehenswerten Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gelobte der Freizeitsegelflieger, wieder mehr zu fliegen.

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Vita Karl J. Spurzem ist Chef vom Dienst bei mare. Während seiner Recherchen im sehenswerten Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gelobte der Freizeitsegelflieger, wieder mehr zu fliegen.
Person Von Karl J. Spurzem
Vita Karl J. Spurzem ist Chef vom Dienst bei mare. Während seiner Recherchen im sehenswerten Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gelobte der Freizeitsegelflieger, wieder mehr zu fliegen.
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