Ein Spion verändert die Welt

Disruptiv wie wenig anderes im globalen Handel: Ein niederländischer Jungkaufmann steuerte die Geschicke der Welt um

Dieses Mal waren es also sechs Schiffe. Nicht fünf, wie sonst üblich, aber das war den Zollinspektoren im Hafen von Cochin bereits bekannt, noch bevor die Flotte eingelaufen war. Nachrichten reisten schnell an Indiens Westküste, vor allem die über die legendäre Pfefferflotte aus Goa, die von Cochin aus Richtung Lissabon in See stach. In diesem Jahr war die Ernte derart gut ausgefallen, dass die Portugiesen ein zusätzliches Schiff organisieren mussten, die „Santa Cruz“. 

Auf ihr segelte ein junger Niederländer nach Europa, der die letzten Jahre im Dienst des Erzbischofs von Goa verbracht hatte. Er war mit wenig Gepäck an Bord gekommen, lediglich einige persönliche Gegenstände sowie eine Truhe mit Dokumenten befanden sich in seiner Kabine. Die Zollinspektoren warfen einen Blick auf die Notizen, die sie nicht lesen konnten. War das Niederländisch? Ja, war es. Ein Tagebuch, erklärte der junge Mann ihnen, Erinnerungen an schöne Tage in Portugiesisch-Indien, an die jungen Damen und die Feste im Palast. Auch Zeichnungen von Elefanten habe er agefertigt, hier und hier, und auf diesen Blättern dort Skizzen von Papageien. Die Inspektoren warfen die eng beschriebenen Seiten desinteressiert zurück in die Truhe. Dann wünschten sie eine gute Reise und gingen an Deck, um dort Kisten und Fässer zu überprüfen. 

Wenn Stefan Zweigs Gedanke aus den „Sternstunden der Menschheit“ stimmt, nach dem ein einziger Augenblick die Geschichte der Welt verändern könne, dann war die Zollkontrolle vor der Abfahrt im Hafen von Cochin an jenem 20. Januar 1589 ein solcher. Hätten die Inspektoren die Truhe mit den Aufzeichnungen beschlagnahmt, die Jan Huyghen van Linschoten an Bord gebracht hatte – sie hätten die Ereignisse der kommenden Jahrzehnte verhindert (oder zumindest auf unbestimmte Zeit verzögert). 

So aber verließ zusammen mit dem jungen Reisenden das gesammelte portugiesische Geheimwissen über die Schiffsrouten nach Indien den Hafen von Cochin, Aufzeichnungen über Strömun­gen, Winde und Flauten, dazu van Linschotens eigene Notizen über die Seetüchtigkeit der Handelsflotte und die Situation an Bord der Schiffe. Es waren diese Informationen, die die Republik der Vereinigten Niederlande bald schon in die Lage versetzen sollten, den unfassbar lukrativen Gewürzhandel an sich zu reißen; es waren diese Manuskripte, die die portugiesischen Herrscher der Meere entthronten. Die Truhe in van Linschotens Kajüte verschob die Machtverhältnisse auf den Ozeanen, in Europa und der Welt. 

Ende des 16. Jahrhunderts hielt Portugal das Monopol auf den Gewürzhandel mit Indien. Nach Vasco da Gamas Pionierfahrt 1498 hatte das Königreich auf der Iberischen Halbinsel seine Einflusssphäre im Osten weiter ausgedehnt. 1510 machten die Portugiesen dann Goa zur Hauptstadt ihres Estado da Índia, kurze Zeit später landeten sie auf Sri Lanka, dann auf den Molukken. Auf der Carreira da Índia, dem „Fahrweg nach Indien“, brachten Portugals Schiffe den Reichtum einer ganzen Welt nach Lissabon. 

Das Wissen um diese Route war ein streng gehütetes Staatsgeheimnis und in sogenannten roteiros zusammengestellt. Jeder Kapitän bekam eine aktualisierte Version dieses Seebuchs ausgehändigt, zusammen mit der Anweisung, es im Fall einer Gefangennahme unbedingt zu vernichten. Als Jan Huyghen van Linschoten in die Geschichte trat, kannten tatsächlich nur die Portugiesen die Route für eine sichere Passage nach Indien. 

Van Linschoten wurde 1563 in einer Ära geboren, die später als Zeitalter von Queen Elizabeth, Philipp von Spanien und Wilhelm von Oranien in die Ge-schichtsbücher eingehen sollte. Er stammte aus Enkhuizen in Westfriesland, das sich während seiner Jugendjahre von einem beschaulichen Heringsfischerhafen zu einer spätmittelalterlichen Boomtown entwickelte. Sein Vater war Wirt im „Gouden Valk“, an dessen Tischen Matrosen ihre Heuer versoffen, Fischer ihren Durst stillten und Piraten von Schätzen in exotischen Weltenecken erzählten.

Der kleine Jan verrichtete Botengänge und lauschte fasziniert, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot. Und fasste schon früh den Entschluss, in die Ferne zu ziehen. „Keine Zeit ist mehr verschwendet als die, die ein Junge in der Küche seiner Mutter verbringt“, würde er später vom anderen Ende der Welt an seine Eltern schreiben. „Er erfährt dort weder, was Armut ist noch was Luxus, noch was es sonst noch gibt auf der Welt – und dieses Nichtwissen ist dann oft genug Grund für seinen Ruin.“

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mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Stefan Nink

Stefan Nink, Jahrgang 1965, Autor in Mainz, hat ein Faible für die Zufälle der Weltgeschichte mit ihren manchmal weitreichenden Folgen – und für die Menschen, die an diesen Zufällen beteiligt waren. Nink: „Haben nicht immer wieder Einzelne den Lauf der Geschichte komplett verändert, ohne dass wir heute noch ihre Namen kennen?“

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