Ein Moment, zwei Leben

Als 16-Jähriger sprang Mario, der von einem Leben als Kapitän träumte, kopfüber in den Golf von Neapel und blieb querschnitts­gelähmt. Seit 20 Jahren umsorgt ihn seine Mutter Raffaela

Es war eine Halb verbotene Sache, das Gelände gehörte zu einer ehemaligen Stahlfabrik an der Küste und war abgesperrt. Die Kinder überwanden Zäune und Mauern und standen plötzlich vor dem Meer, Mario zum ersten Mal an dieser Stelle, den Steg kannte er noch nicht. Das Wasser war trüb, die Tiefe ungewiss, aber die Mädchen da. Zur Mutprobe gehört das Ungewisse, soll er, soll er nicht? Das Licht lässt das Meer glänzen wie mit silbernen Schuppen besetzt, Mario springt. Und nach Hause kommt er nach einem Jahr im Rollstuhl, mit schiefen Schultern, abgewinkeltem Kopf und starrem Hals.


Der 28. Juni 2002:

„war ein schöner Tag“, sagt die Mutter Raffaela.

„war ein bewölkter Tag“, sagt der Sohn Mario.

An dem Tag hatte er Bauchweh und ist nicht zur Schule gegangen, aber ein Freund fragte, ob er Lust habe mitzukommen, ins Stahlwerk, an den Steg. Fünfmal sprang Mario hinein, und fünfmal ging alles gut, er war eigentlich schon fertig und wieder angezogen, da schubste ihn jemand hinein, und als Mario mit seinen nassen Klamotten wieder draußen war, dachte er, jetzt kannst du ja noch mal reinspringen, und da passierte es: Er schlug mit dem Kopf auf den Grund, sank in den weichen Sand und konnte sich nicht mehr bewegen. Da lag er nun, die Sekunden vergingen, die Minuten, er dachte, vielleicht kann er atmen wie ein Fisch, und dann zogen sie ihn heraus, er weiß noch, wie sie ihn auf einer Liege in einen Krankenwagen schoben und nur ein Gedanke in seinem Kopf war: Sagt es nicht meiner Mutter. Sie kriegt einen Herzinfarkt.


Raffaela war bei der Arbeit, bekam den Anruf. „Ihr Sohn ist verunglückt, kommen Sie ins Krankenhaus.“ Mario war bei Bewusstsein, sie drückte und küsste ihn, er sagte, dass er Angst habe, seine Beine nicht spüre. „Mama, es tut mir leid.“ Er weinte. Am Anfang dachte sie, das wird noch. Es ist bloß ein Schock.

Er wird von Neapel nach Rom verlegt, Flug im Helikopter, Einweisung in die Rianimazione, Intensivstation, Nome: Mario Garofalo, Nato: 8. Juni 1985, Residenza: Via Diocleziano 326, Napoli, Diagnosi: Tetraparesi grave da trauma cervicale con fratture di C5/C6; Rückenmarksverletzung, Fraktur der Halswirbelsäule bei C5/C6. Mario wird an einen Bildschirm angeschlossen mit Zahlen und grünen Linien, die sich schlängeln und manchmal Alarm schlagen, nach Kriterien, die ihr verschlossen bleiben, aber eines erkennt die Mutter gewiss: Sobald sie Mario im Schlaf über den Kopf streicht, reagieren die Wellen auf dem Monitor.

Nachts darf sie nicht bei ihm sein, aber dann braucht er sie besonders, denn von den Medikamenten bekommt er Halluzina­tionen. Erst wenn seine Mutter morgens kommt, schläft er ein. Sie sitzt dann an seinem Bett, schaut in sein Gesicht und versucht darin zu lesen. Manchmal schlägt er die Augen erschrocken auf, als ob er etwas Schlimmes gesehen hätte. Sie denkt nicht an ­Morgen, die Zukunft ist weg. Und Mario denkt: Ich brauche ein bisschen Erholung, dann geht es wieder.

Seit Kurzem besucht er eine spezielle nautische Schule, die ihn auf eine Karriere in der Seefahrt vorbereiten soll. In seiner Freizeit jobbt er als Festmacher im Hafen und blickt Schiffen hinterher, wie sie kleiner werden, bis sie am Horizont verschwinden. Bald wird er mit ihnen in See stechen, Kapitän möchte er werden.

Er war ein hyperaktives Kind, sagt die Mutter, mit zehn Monaten konnte er gehen, ein Wirbelwind, kaum zu bändigen. Fuhr mit dem Fahrrad Treppen hinunter, kletterte Bäume hoch, schlug sich Knie auf, schürfte sich Ellbogen, brach sich aber nie etwas, war wie aus Gummi, sagt sie.

Und nun liegt er vor ihr, mit seinem Engelsgesicht, 16 Jahre und wieder wie damals, wie nach der Geburt, ein kleines, zerbrechliches Wesen. Das Schnaufen der Geräte, die Schläuche und Kanülen, die dünne Halskrause und das lange, weiße Operationskleid. Komm bloß nicht auf den Gedanken, dich aus dem Staub zu machen und mich allein auf der Erde zurückzulassen, denkt Raf­faela. Um 22 Uhr schließt die Intensivstation für Besucher. „Bitte geh nicht, bleib hier, versteck dich unter meinem Bett“, sagt Mario.

Sie operieren ihn am Hals, pflanzen ihm eine Plakette zwischen die gebrochenen Wirbel, stecken ihm einen Schlauch in den Mund. Für drei Wochen kann er nicht sprechen, Mario kommuniziert mit seiner Mutter über einen Zettel mit Buchstaben.

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mare No. 152

mare No. 152Juni / Juli 2022

Von Dimitri Ladischensky und Paolo Manzo

Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, Jahrgang 1972, bewegte sich während seiner Recherche in Neapel im Grunde nur auf der Via Diocleziano. Hier ist Mario geboren und zur Schule gegangen, hier ist er verunglückt, und hier ist er immer noch zu Hause. In seinem Zimmer, mit Blick auf seine Straße, ­erzählte ihm Mario von einem wiederkehrenden Traum. Er streift durch eine ­unbekannte Straße. Spürt den Wind auf seinen Wangen. Hat den Weg verloren, muss ihn aber nicht wiederfinden, weil er nirgendwo hinmuss. Und wenn er das Traumbild beim Aufwachen noch im Kopf hat, meint er einen Augenblick, er könne wieder gehen.

Paolo Manzo, Jahrgang 1986, lebt als freier Fotograf in Neapel. Als er Mario vor ein paar Jahren zum ersten Mal in einer Bar traf, war er sich unsicher, ob er ihm die Hand geben könne. Nach einer Weile kamen sie auf Manzos Arbeit zu sprechen, und Mario bat ihn, ihm beim Biertrinken zu helfen. „Das war der Moment, in dem eine unsichtbare Barriere brach“, sagt Manzo. Am Ende des Abends beschlossen sie ein Projekt: Marios Leben, in all seinen Facetten, über zwei Jahre.

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Vita Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, Jahrgang 1972, bewegte sich während seiner Recherche in Neapel im Grunde nur auf der Via Diocleziano. Hier ist Mario geboren und zur Schule gegangen, hier ist er verunglückt, und hier ist er immer noch zu Hause. In seinem Zimmer, mit Blick auf seine Straße, ­erzählte ihm Mario von einem wiederkehrenden Traum. Er streift durch eine ­unbekannte Straße. Spürt den Wind auf seinen Wangen. Hat den Weg verloren, muss ihn aber nicht wiederfinden, weil er nirgendwo hinmuss. Und wenn er das Traumbild beim Aufwachen noch im Kopf hat, meint er einen Augenblick, er könne wieder gehen.

Paolo Manzo, Jahrgang 1986, lebt als freier Fotograf in Neapel. Als er Mario vor ein paar Jahren zum ersten Mal in einer Bar traf, war er sich unsicher, ob er ihm die Hand geben könne. Nach einer Weile kamen sie auf Manzos Arbeit zu sprechen, und Mario bat ihn, ihm beim Biertrinken zu helfen. „Das war der Moment, in dem eine unsichtbare Barriere brach“, sagt Manzo. Am Ende des Abends beschlossen sie ein Projekt: Marios Leben, in all seinen Facetten, über zwei Jahre.
Person Von Dimitri Ladischensky und Paolo Manzo
Vita Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, Jahrgang 1972, bewegte sich während seiner Recherche in Neapel im Grunde nur auf der Via Diocleziano. Hier ist Mario geboren und zur Schule gegangen, hier ist er verunglückt, und hier ist er immer noch zu Hause. In seinem Zimmer, mit Blick auf seine Straße, ­erzählte ihm Mario von einem wiederkehrenden Traum. Er streift durch eine ­unbekannte Straße. Spürt den Wind auf seinen Wangen. Hat den Weg verloren, muss ihn aber nicht wiederfinden, weil er nirgendwo hinmuss. Und wenn er das Traumbild beim Aufwachen noch im Kopf hat, meint er einen Augenblick, er könne wieder gehen.

Paolo Manzo, Jahrgang 1986, lebt als freier Fotograf in Neapel. Als er Mario vor ein paar Jahren zum ersten Mal in einer Bar traf, war er sich unsicher, ob er ihm die Hand geben könne. Nach einer Weile kamen sie auf Manzos Arbeit zu sprechen, und Mario bat ihn, ihm beim Biertrinken zu helfen. „Das war der Moment, in dem eine unsichtbare Barriere brach“, sagt Manzo. Am Ende des Abends beschlossen sie ein Projekt: Marios Leben, in all seinen Facetten, über zwei Jahre.
Person Von Dimitri Ladischensky und Paolo Manzo