Ein Mann namens Pinguin

Ein Schweizer Fotograf macht das ultimative Bild vom Vogel im Eis zur Lebensaufgabe. Hollywood ist interessiert

Die weite Weisse war zu einer dunklen Wand verdichtet. Eine Mauer aus Nacht und Wind, rasendem Wind, undurchdringbar für Körper und Willenskraft eines einzelnen Menschen. Dieses Menschen: Bruno Joseph Zehnder, Schweizer Staatsbürger, 52 Jahre alt, gemeldet in Manhattan, New York. Gut anderthalb Kilometer weg von der rettenden Station und 14500 Kilometer entfernt von der Heimatstadt Bad Ragaz, deren Berge ihn einst zu erdrücken drohten. Vor denen er geflohen war, Kontinente weit. Bis nach Amerika zuerst und dann, als ihm dort eine andere Enge die Seele quetschte, auf diesen: den kältesten Kontinent, den mörderischen. Den geliebten.

Am 7. Juli 1997, Europa zerfloss in der Hitze eines Jahrhundertsommers, erfror der Fotograf und Pinguinforscher Bruno Zehnder im antarktischen Eis. Der Sturm tobte mit 200 Kilometer pro Stunde über die Ödnis; der Schein der Leuchtraketen, abgeschossen von den Rettungsteams, brach sich an den Flocken, dem Eis der Berge, wurde Irrlicht. Das Funkgerät entkräftet, die Kleidung ein froststarrer Panzer, fiel Zehnder in jener Nacht rücklings ins Ende. Zwei Tage später fanden ihn die Helfer. Sein letzter Film zeigt eine Gruppe von Kaiserpinguinen – ein großer Pulk aneinander gepresster Körper, über die der Blizzard fegt. In ihrer Mitte, denkt man, hätte er überlebt.

Natürlich hätten sie ihn aufgenommen, er war ja einer von ihnen: Bruno Pinguin Zehnder. Hatte tatsächlich den „Joseph“ aus Pass und Wesen getilgt und ihn – amtlich – ersetzen lassen durch seine zweite Natur, nomen est omen. War viele Male in dieses Nirgendwo gereist, näher am Südpol als an der nächsten Stadt. Noch weiter lag New York, wo die Freundin lebt und der Bruder, Fotograf wie er, Vorbild, der heute sagt: „Er ist viel weiter gegangen als ich.“ Hatte sich in diesem Blechcontainer eingemietet mit Namen „Mirny“, der ältesten russischen Forschungsbasis in der Antarktis. Drei helle Wochen nur im Jahr, dafür 300 Blizzards, ein halbes Hundert Minusgrade und eine saufende Containercrew samt ihrem tiefen Verdacht, dieser ewig lächelnde Schweizer, dieser „Pinguinmann“, sei ein Spion. Und die dann doch versuchte, unter Lebensgefahr, ihn aus der klirrenden Nacht zu holen.

Alles wegen dieser gefiederten Tollpatsche. Er liebte sie, weil sie „neben Enten und Schimpansen die lustigsten Tiere der Erde sind“. Ihn faszinierte ihre „Kameradschaft, ihr Familiensinn“, weil sie einander wärmten auf Gedeih und Verderb. „Er identifizierte sich mit ihnen“, sagt Kwami Handy, die Frau, die er auf seiner letzten Reise zurückließ. „Seine Fotos sollten zeigen, wie sie sich umeinander kümmerten, einander bewachten. Er meinte, die Menschen sollten mehr wie Pinguine sein.“

Verzaubert war Zehnder vor allem von jener Eigenart der Kaiserpinguine: wie das Weibchen das Ei mit dem Schnabel zum Männchen rollt, das es aufnimmt auf die Patschen, unters Fell, wo Wochen später ein Schwarzschnäbelchen hervorlugt. „Es ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe“, sagte er.

Watschelnde Eisheilige, anbetungswürdig: Auf dem Bauch liegend, die Kamera im Anschlag, so harrte Zehnder stundenlang. Am Ende hatte er Erfrierungen an Gesicht und Händen, doch fast immer auch den entscheidenden Schuss. Der berühmteste ziert eine Geldkarte: ein Pinguinpaar, zugeneigt wie in rührender Innigkeit. „Tender Love“, zärtliche Liebe, nannte es Zehnder. Er meinte es ernst, er wusste, dass Pinguine wie Menschen fühlten. „Nur viel ehrlicher.“ Andere Fotos hängen im Museum of Modern Art. „Die Pinguine in seinen Fotos nahmen immer öfter klare menschliche Aspekte an“, schrieb „Vanity Fair“ in einem großen Zehnder-Porträt. „Eine Kolonie, fotografiert aus einem Helikopter, erinnert an eine Straßenszene. Und ein Kaiserpinguin, die Brust geschwellt, sieht Orson Welles nicht unähnlich.“ Für manches Bild des Autodidakten zahlten die Magazine an die 10000 Dollar. Er hätte sich mehr leisten können als jenes Zimmerchen im Studentenwohnheim. Doch das Geld finanzierte die letztlich 21 Passagen Richtung Antarktis. Heimwärts.

Mit sechs Jahren sah Bruno Zehnder zum ersten Mal einen Pinguin, in einem Bilderbuch. Kurz darauf bastelte er einen Pferch auf dem Hof der Eltern, setzte eine Pfütze in die Mitte und wünschte sich das Tier. Erwachsen geworden, folgte er seinem Bruder nach Paris, sie teilten Zimmer, exotische Frauen und ihre Leidenschaft zur Fotografie. Irgendwann setzte sich der Jüngere ab, es trieb ihn durch Russland, durch Indien, nach Japan. 1975, Zehnder war 30, brachte ihn ein dänischer Frachter in die Antarktis. Zehnder stand an der Reling, als das Schiff schließlich aufs Festland hielt, geradewegs auf eine Kolonie von Pinguinen. „Ich hörte das Geschrei aus Tausenden Kehlen“, sagte er später, „es war eine religiöse Erfahrung.“


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mare No. 30

No. 30Februar / März 2002

Von Maik Brandenburg und Bruno P. Zehnder

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik.
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