Ein Lokal, wie es im Buche steht

In der „Haffschänke“ lässt die Kundschaft nicht nur ihr Geld. Seit 1897 schreibt sie ihre Kommentare ins Gästebuch

Das Haus macht nicht viel her – ein paar Tische drinnen, ein paar draußen, zwei Tresen. Dazu viel Plastik, das mal Plaste war. Der dicke Wirt geht in Trainingshosen, die Schwestern tischen auf. Aal natürlich, Kotelett, Flundern in süßsaurer Soße, zwei auf jedem Teller. „Es ist kein Kurhotel wie in Swinemünde, dafür wurden wir hier auch nicht geneppt“, schrieb die Besatzung des Seglers „Kiek in die Welt“. Das war im Sommer 1927.

Sie schrieb es ins allererste Gästebuch der Karniner „Haffschänke“. „Vadder“ Gentz, ebenfalls der allererste, ging reihum und bat um freundlichen Eintrag. Inzwischen gibt es den dritten Vadder Gentz, Rentner längst, und das dritte Buch fasst kaum noch Tinte. Drei Wälzer, Tausende Seiten, längst mehr als Gästebücher – Geschichtsbücher, ein deutsches Jahrhundert zwischen Steg und Steak.

Am Anfang ist „Herr Pettkewitz“. Sommer 1897, „Stand – Maler“. Noch kein Wort zu viel, kein Kommentar. Ihm folgen die Hausdiener, die Tuchmacher, die Zimmerer. Wanderarbeiter allesamt, sie nehmen Logis im Stall. „Die Höheren waren hier nie“, sagt der junge Wirt Franz, Vadders Sohn, „die steigen ab in Ahlbeck.“

Kurz nach der Jahrhundertwende entdecken die Segler den Anleger im Schilf, die Kneipe an Usedoms Haff. „Titania“, „Arkadia“, die Yachten sind kleiner als ihre Namen, doch sie lassen die „Haffschänke“ aufleben. Die „Faltbootgruppe der Höheren Technischen Lehranstalt der Stadt Berlin“ paddelt längsseits, die „Turnerschaft ,Teutonia‘“ mit ihren Kajaks. Zu allen setzt sich der Wirt, allen gibt er das Buch, meistens rechtzeitig: „Wir sitzen hier bei Vatter Gentz / die Gläser sind andauernd Lenz / Vatters Aal, de schmeckt so got / ich hoff, wi suppen uns nich dot.“

Ab 1903 malen die Ersten Flaggen ins Buch, voran den Reichsadler, wo Deutsche dümpeln, war der Kaiser nicht weit. Unter „Stand“ werden jetzt Schiffsklassen vermeldet. Bald skizzieren manche ihr Bötchen, bald sind es Boote mit seitensprengenden Rümpfen. Die erste Farbzeichnung prangt im August 1927, das erste Hakenkreuz im Juli 1930. Auch die Goldbergs aus Berlin danken für „de Aaleken“.

Süßsauer muss er sein, in Gelee und mit Bratkartoffeln. Hausmannskost, sagt Vadder Gentz, nach einem „alten Geheimrezept“. Das Geheimnis ist: Es gibt keine Kochvorschriften. Oder nur sehr laxe. „Muss halt schmecken“, sagt Sohn Franz, der Koch. Am 9. April 1945 der letzte Eintrag auf Jahre: „Es sind jetzt 6 Jahre Krieg / wir alle warten auf den Sieg …“

Erst im Sommer 1950 beginnt ein neues Kapitel. Nun machen die Flaggschiffe der neuen Zeit fest. Keine Yachten mehr, sondern Segelkutter wie die „Ernst Thälmann“. Auch das Ruder führen jetzt andere, die Jungproletarier der „IG Wasserfahrtsport der FDJ“ etwa. Kurs voraus strahlt der sozialistische Morgen, nur Aal gibt’s keinen mehr. Der ist jetzt Devisenbringer und geheime Zweitwährung. Mit Sülze und Bratkartoffeln bringt Gentz seine Kundschaft durch die DDR. Lustig bleibt es trotzdem: „Haben wir auch keinen Aal im Bauch / der Cognac tut’s auch“, schreibt jemand ’51. Die Segler machen jetzt kleine Fahrt, nur noch die Flüsse sind erlaubt, die Achterwasser wie das Haff – die Ostsee selbst ist abgeriegeltes Grenzgebiet.

Winters sitzen die Dörfler um den Kneipenofen und spielen Doppelkopf. „Auch die von der Stasi, die kannt ich ja alle“, sagt Vadder Gentz. Die Hakenkreuze stoßen ihnen auf, sie verlangen das Gästebuch zur „Entnazifizierung“. „Aber dat is’ doch ’n Dokument“, sagt der alte Wirt, „ich hab die nich’ ausradiert.“

Draußen essen die Radler, die Autofahrer, doch nur den Seglern rückt Vadder Gentz das Buch heraus, denn „Segler sind meine Freunde“. Viele sind es nicht mehr, die anlegen. Die Wende hat den Aal zurückgebracht, die Plumpsklosetts verschwinden lassen, die „Hühnerscheiße auf dem Hof“. Doch auch die Boote sind weg, weit weg.

Drei Bücher, die Chronik eines Jahrhunderts aus einem toten Winkel des Landes. Neuerdings kommen sogar Reisebusse. Die Gäste bleiben gerade zum Essen, der Sohn führt das Geschäft, er hat keine Zeit, durch die Reihen zu gehen. Niemand nennt ihn „Vadder“.


Saurer Aal in Gelee

Zutaten (für drei bis vier Personen)

600 Gramm Aal (Rohgewicht), vier Blatt Gelatine, eine Zwiebel, drei Loorbeerblätter, Pimentkörner, Salbei, Thymian, 400 Milliliter Weißwein, Essig, Zucker.

Zubereitung

Aalhaut abziehen, Fisch salzen, in den mit Piment, Lorbeer, Zwiebel und Weißwein angerichteten Fischsud geben, Essig und Zucker dazu. 5 Minuten köcheln lassen, dann Fisch herausnehmen und in einer Schale mit Salbei und Thymian garnieren. Fischsud mit Gelatine aufwallen lassen, über den Aal gießen, etwa 3 Stunden abkühlen lassen. Dazu Bratkartoffeln.


Haffschänke
Dorfstraße 19, Karnin/Usedom.
Telefon: 038372/70 375.
Dienstag bis Sonntag 11 bis 22 Uhr.

mare No. 52

No. 52Oktober / November 2005

Von Maik Brandenburg und Christian Kaiser

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Christian Kaiser, Jahrgang 1960, studierte visuelle Kommunikation an der HfbK in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte sind Essays und Reportagen rund um den arbeitenden Menschen, sowie zur Kultur und Natur.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Christian Kaiser, Jahrgang 1960, studierte visuelle Kommunikation an der HfbK in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte sind Essays und Reportagen rund um den arbeitenden Menschen, sowie zur Kultur und Natur.
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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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