Ein kapitaler Irrweg

Der weltweite, aktienfinanzierte Merkantilismus hat den Ursprung im Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Die Handelsgesellschaft VOC, die Schiffe voller Gewürze und

I. Die Kammer

Einige Schritte von Rotlichtviertel und Chinatown entfernt, an einer der ältesten Grachten Amsterdams, liegt der Kloveniersburgwal. Unter Nummer 48 ist ein streng wirkendes, spitzgiebeliges Gebäude anzutreffen. Der Bau ist weder prächtig noch prunkvoll; er ist schön, aber profan. Durch die Lobby hindurch, ein paar Treppenstufen hinauf, Hochparterre, befindet sich linker Hand eine cremefarben lackierte Tür mit einem merkwürdigen Wort sowie einem enigmatischen Emblem in schwarzem Lack: Bewindhebberskamer A, darunter: VOC.

Das Zimmer hinter dieser Tür ist dunkel, es riecht nach Stoff und altem Holz, 22 schlichte Stühle umstehen einen ovalen, mit grünem Stoff bedeckten Tisch. Der Kamin ist aus grünem Stein, an der Wand hängen vier Ölgemälde: Palmen, Himmel, Meer, Schiffe, Werften und exotische Szenen sind zu sehen, die Ländernamen Canton, Ludea und Couchyn zu lesen. Rechter Hand nimmt eine gestochene Weltkarte große Teile der Tapete ein.

Dieser Raum, nicht größer als ein Klassenzimmer, war fast zwei Jahrhunderte das Zentrum des einst mächtigsten Unternehmens der Welt. Von hier aus wurde das Goldene Zeitalter der Niederlande organisiert, hier fielen die Welt bis heute prägende Entscheidungen, hier wurde Geschichte organisiert. Die für ihre Bedeutung erstaunlich bescheidene Bewindhebberskamer, etwa „Befehlshaberraum“, war 192 Jahre lang die Zentrale der Heren XVII, der 17 Direktoren der Vereenigde Oostindische Compagnie, kurz: VOC. Kein Bürger kannte die einzelnen Namen dieser Siebzehn, regiert wurde im Kollektiv, die Beschlüsse wurden einstimmig gefasst. Durch eine in der Weltgeschichte bis dahin einzigartige Infrastruktur wurde von diesem Gebäude aus, in dem heute die Amsterdamer Universität untergebracht ist, die östliche Hemisphäre erobert – mit calvinistischer Cleverness, kaufmännischer Exzellenz und überraschender Brutalität. Durch katastrophale Fehler der 17 Herren und allerlei menschliche Makel ging zwei Jahrhunderte später alles wieder verloren.

II. Aufstieg

Der 20. März 1602 ist der Tag, an dem die privatwirtschaftliche Firma VOC die Welt zu beherrschen beginnt. Diesem Ereignis voraus liegt eine lange Geschichte, deren beide großen Linien kurz gefasst lauten: Die Provinzen der Niederlande sind von Spanien und Portugal okkupiert, seit 1577 führen niederländische Protestanten einen offenen Krieg gegen die Habsburger Katholiken unter der Krone Philipps II. Andererseits sind seit 100 Jahren die Portugiesen die unumstrittenen Herrscher der Weltmeere. Sie dominieren den Handel mit Textilien und Gewürzen und besitzen etwas, was damals so viel wert ist wie heute die Technologie von Apple: nautisches Geheimwissen und Seekarten. Die Portugiesen haben die besten Kartografen, die besten Instrumente und die erfahrensten Seefahrer. Sie kennen die besten Routen, haben wendige Segler und wissen, wie man gefährliche Winde kreuzt. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit setzt Besatzung kreative Kräfte frei, und der Aufstieg der VOC beginnt, als Spanien und Portugal den holländischen Handelsweg auf die Iberische Halbinsel blockieren. Die Häfen in Sevilla und Porto sind dicht, die Niederlande vom Markt abgeschnitten. Keine Gewürze mehr, kein Zucker, nichts. Was tun?


Man sieht sich nach anderen Handelswegen um, in Afrika, Amerika und vor allem Asien. Jene niederländischen Seeleute, die auf portugiesischen Schiffen indienwärts gefahren sind, haben ihre eigenen Berechnungen angestellt und die Vermessungsergebnisse der Ostroute zurück nach Amsterdam gebracht, wo jetzt die besten und präzisesten Kartografen an den besten Globen und Atlanten der damaligen Zeit arbeiten: Gerard van Keulen und Joan Blaeu, dessen elfbändiger „Atlas Maior“ später 600 kunstvoll gestaltete Karten beinhalten wird.

Kleine Unternehmen, sogenannte Vorkompanien, gründen sich; das Geld für Reisen ist ausreichend vorhanden; seit Ende des 15. Jahrhunderts dominieren die Niederländer Transport, An- und Verkauf von Salz und Getreide zwischen Ostsee und Mittelmeer. 1595 stechen zum ersten Mal vier Schiffe für die „Compagnie van Verre“ von Amsterdam aus in See nach Osten – 290 000 Gulden sind investiert, 100 000 allein für den Ankauf von Gewürzen in Ostindien. Drei Jahre später sind es bereits fünf Fahrten verschiedener Kompanien von verschiedenen Städten aus, neun weitere folgen. Sie alle haben ein Ziel: die Insel Java im heutigen Indonesien. Ihr Hauptort Bantam ist damals der wichtigste Umschlagplatz für die begehrten Gewürze und seit seiner Gründung auf den maritimen Handel ausgerichtet.


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mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Die Analogie zwischen Aufstieg und Fall der VOC und der Krise des gegenwärtigen Finanzkapitalismus ist für ihn so bestechend wie verstörend. Seine Quintessenz: Geschichte lehrt Demut.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Die Analogie zwischen Aufstieg und Fall der VOC und der Krise des gegenwärtigen Finanzkapitalismus ist für ihn so bestechend wie verstörend. Seine Quintessenz: Geschichte lehrt Demut.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien, ist freier Autor und lebt in Hamburg. Die Analogie zwischen Aufstieg und Fall der VOC und der Krise des gegenwärtigen Finanzkapitalismus ist für ihn so bestechend wie verstörend. Seine Quintessenz: Geschichte lehrt Demut.
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