Ein kaiserliches Schalentier

Im Rokoko galt die Auster als edles, vor allem teures Vergnügen des Adels und seiner Günstlinge am Hof. Der Grund hierfür war der aufwendige Eiltransport

Eigentlich war der katholische Kirchenkalender des Jahres 1785 eindeutig. Der 20. Februar fiel in die Zeit, in der Fleischgenuss nicht geboten war. Doch für die zehn Gäste, die sich an diesem Tag im Haus des Wiener Librettisten Johann Gottlieb Stephanie d. J. zu einem späten Mittagsmahl einfanden, schienen die Fastenregeln nicht zu gelten. Geradezu „fürstlich“ habe der Gastgeber für Wolfgang Amadeus Mozart und die übrigen Geladenen gesorgt, heißt es in einem Brief von Mozarts Vater Leopold an seine Tochter Nannerl. „Es wurde nichts als Fleischspeisen aufgetragen, und der Phasan war zur Zuspeise im Kraut.“ Und dann noch „am Ende Austern, das herrlichste Confect, und viele Boutellien Champagnerwein nicht zu vergessen. Überall Coffeé, – das versteht sich“.

Im heutigen Sprachgebrauch fiele die Einladung im Haus Stephanie wohl unter die Kategorie „Businesslunch“. Zwei Jahre nach dem großen Erfolg von Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ muss es den freiberuflichen Textschreiber gedrängt haben, sich bei dem Starkomponisten für die nächste Auftragsarbeit in Erinnerung zu rufen. Diesem wiederum kam die Tafelrunde bei Stephanie sehr zupass, konnte er damit doch dem immer und ewig um die Finanzen besorgten Vater zeigen, in welch illustrer und vor allem vermögender Gesellschaft er sich in Wien bewegte.

Nichts Neues also auf dem Feld der kulinarischen Verführung. Den Einfluss, den sich der moderne Gastgeber für seine Geschäftsbeziehung vom beiläufig empfohlenen Filet des Kobe-Rindes erhofft, sollte im späten Rokoko die Auster richten. Und nichts Neues auch bei den Tricks, mit denen Gläubige seit eh und je bemüht sind, das Fastengebot großzügig zu interpretieren. So enthielt etwa das 1718 erschienene und von Conrad Hagger „Für Hochfürstliche und andere vornehme Höfe / Clöster / Herren=Häuser / Hof= und Hauß=Meister / Köch und Einkäuffer“ zusammengestellte „Neue Saltzburgische Koch=Buch“ nicht weniger als 136 „Fasten=Suppen“. Darunter ein Rezept „von Müschelein / mit weissen Schwammen [Champignon, die Red.] / Peltzling [Steinpilz] / oder Däubling [Täubling] / Austern und Krebs“.

Verändert hat sich einzig das mit solchen Extravaganzen verbundene Risiko für Leib und im schlimmsten Fall auch fürs Leben. Reisende hatten zwar immer wieder und voller Neid von Riesenaustern auf den englischen Fischmärkten berichtet. Obwohl „abscheulich theuer“, schrieb 1765 Leopold Mozart dem Salzburger Handelsherrn und Freund Johann Lorenz Hagenauer, könne man „aus einer solchen … 4 Venezianische machen. In­dem man eine Auster nicht essen kann, ohne sie wenigst in der Mitte einmahl von einander zu schneiden“. Doch mehr als der Hinweis auf ein kulinarisches Kuriosum kann dieser Brief nicht gewesen sein. Jeder wusste: Keine Auster hätte damals die lange Reise von London nach Österreich lebend überstanden.

Und so stammten die im Herzland des Habsburgerreichs verzehrten Austern und anderes Meeresgetier allesamt aus der nördlichen Adria. Dort wurden sie in größeren Mengen geerntet im flachen Wasser vor Triest, dem wichtigsten Hafen der österreichischen Kriegsmarine.

Als besonders schmackhaft aber galten die Arsenal-Austern, die an den Pfählen unter dem venezianischen Werft­gelände Arsenal im Dreckwasser der Serenissima bestens gediehen. Was heute sofort zu einer Razzia der Gesundheitsbehörden führen würde, war für Mozarts Zeitgenossen kein Thema: Für sie war es normal, dass menschliche Fäkalien ebenso wie anderer Unrat aus den venezianischen Palazzi direkt ins Wasser plumpsten und dort, auch wegen des geringen Tidenhubs der Adria, längere Zeit vor sich hin dümpelten, ehe alles hinaus in die Lagune gespült wurde.

Hätten sie vom Norovirus und seiner erst kürzlich entdeckten Vorliebe von Aus­tern als Brutstätte gewusst – wohl kaum hätten die Autoren des Salzburger „Appetit-Lexikons“ die Arsenal-Auster noch 100 Jahre nach Mozarts Fastenmahl zu den „besten Sorten überhaupt“ gezählt.


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mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

Von Johannes von Dohnanyi

Johannes von Dohnanyi hat mehr als 30 Jahre als politischer Korrespondent in vielen Teilen der Welt gearbeitet. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl seiner Standorte war dabei immer die Nähe zum Meer. Triest, die Serenissima und die nördliche Adria gehören zu den großen Lieben aus seiner Italienzeit.

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Vita Johannes von Dohnanyi hat mehr als 30 Jahre als politischer Korrespondent in vielen Teilen der Welt gearbeitet. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl seiner Standorte war dabei immer die Nähe zum Meer. Triest, die Serenissima und die nördliche Adria gehören zu den großen Lieben aus seiner Italienzeit.
Person Von Johannes von Dohnanyi
Vita Johannes von Dohnanyi hat mehr als 30 Jahre als politischer Korrespondent in vielen Teilen der Welt gearbeitet. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl seiner Standorte war dabei immer die Nähe zum Meer. Triest, die Serenissima und die nördliche Adria gehören zu den großen Lieben aus seiner Italienzeit.
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