Ein außerirdischer Bremsklotz

Wie der Mond unserem Planeten die Zeit stiehlt

Für manchen Zeitgenossen hat der Mond etwas Stupides, wie er uns Erdlinge immer so stur nur von einer Seite aus anstarrt. Zu keiner eigenen Drehung ist er zu bewegen. Allein der Umlauf um die Erde lässt ihn im selben Takt um die eigene Achse wenden. Doch Überheblichkeit wäre hier fehl am Platz. Auch unser Himmelskörper, die Erde selbst, könnte dereinst stillstehen, wenn es so weitergeht wie heute. Die Tage werden länger, vielleicht ja sogar einmal so lang wie ein ganzes Jahr. Schuld daran ist auch der Mond – vor allem aber sind es die Ozeane unserer Welt.

Immanuel Kant hat es schon 1754 vermutet, Friedrich Engels hat sich später darüber trefflich lustig gemacht, aber inzwischen gilt es als erwiesen: Die Erde verlangsamt ihre Drehbewegung um die eigene Achse. Sowieso läuft die Erde unrund. Klimatische und witterungsbedingte Kräfte bewirken, dass alle zwei, drei Jahre zu Silvester eine Schaltsekunde eingefügt oder herausgenommen werden muss aus dem internationalen Zeitsystem, da mögen die Atomuhren noch so genau funktionieren und nur alle zwei Millionen Jahre um eine Sekunde nachgehen.

Doch nichts wirkt so nachhaltig Tag für Tag, Jahr für Jahr gegen den rechtsdrehenden Globus wie die ungeheure Kraft mit Linkstendenz: der ewige Gezeitenstrom. Vom Mond gezogen, verläuft er von Ost nach West. Er bewirkt die permanente Verlangsamung der Erdrotation.

Welche Energie das schwappende Element ausübt, vermag nicht nur der zu beurteilen, der einmal ein mit Wasser gefülltes Bassin zu tragen versucht hat, sondern mehr noch, wer sich vor Augen hält, welche Energie erst das Meer in Bewegung hält. Was die wenigsten wissen: Der Mond schafft sogar terrestrische Gezeiten. Der Boden Berlins beispielsweise hebt und senkt sich ebenfalls knapp alle zwölf Stunden um 30 Zentimeter.

Jede Masseänderung rund um den Globus hat ihre Wirkung auf sein Drehmoment. Und das Meer hat in vielfacher Weise damit zu tun. Stets im Frühling und im Sommer, wenn die Bäume ausschlagen und auch sonst alle Biomasse nach oben treibt, die Erde auf der Nordhalbkugel quasi ihre Arme ausbreitet, wirkt dies wie bei einem Eisläufer tendenziell verlangsamend. Nordsommer und Südsommer gleichen sich hierbei deshalb nicht aus, weil auf der Südhalbkugel weniger Bäume sprießen können: Dort ist die Meeresfläche ungleich größer.

Rotationsforscher sind sogar einmal der Frage nachgegangen, ob die millionenfachen Urlauberkolonnen, die im Sommer gen Süden ans Meer strömen, ähnliche Konsequenzen zeitigen. Schließlich heißt gen Süden – bis zum Äquator – stets: weg von der Erdachse. Quantifizierbare Ergebnisse hat dieser Ansatz nicht hervorgebracht. Wohl aber ist dies der Fall bei der verlangsamenden Wirkung der „Gezeitenreibung“, die sich gegen die Erdrotation stemmt.

Vor 200 Millionen Jahren hatte das Jahr noch 385 Tage, vor 370 Millionen Jahren waren es sogar 400 Tage. Nicht das Jahr war länger als heute, vielmehr waren die Tage entsprechend kürzer. Der devonische Tag des Erdaltertums war also um mehrere Stunden kürzer als ein heutiger. Astronomen haben dies errechnet. Den Beweis, dass sie richtig gerechnet haben, liefert wiederum das Meer – oder das, was einmal Meer war. Man muss nur genau genug hinsehen. Auf fossilen Korallen haben Forscher feine Furchen entdeckt, von denen sie annehmen, dass es sich dabei um tägliche Wachstumsringe handelt, die von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr variierten. Daran können die Tage gezählt werden. Und dass dafür die Gezeitenreibung Ursache ist, haben Astronomen belegt. Durch Anpeilen von Radioquellen extragalaktischer Himmelskörper konnten sie einen Zusammenhang der Lage der Erde in Raum und Zeit mit den Flutwellen herstellen.

Summa summarum verlangsamen die Meere der Erde deren Umdrehung um zwei Millisekunden pro Jahrhundert. Der blaue Planet wird alt, daran können weder der Internationale Erdrotationsdienst (IERS) in Paris noch das Geoforschungszentrum in Potsdam, die all diese Dinge regelmäßig be- und nachrechnen, etwas ändern. Ein Trost bleibt vielleicht, wenn wir denn in Altersstarrheit auf ewig „face to face“ zum Mond stehen: Er wird, weil sich die Erde immer langsamer dreht, weiter von ihr wegdriften. Aber daran ist er dann wirklich selbst schuld.

mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Ulli Kulke

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Wissenschaftsreporter der Tageszeitung Die Welt.

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Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Wissenschaftsreporter der Tageszeitung Die Welt.
Person Von Ulli Kulke
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