Du hast es so gewollt, Georgette...

mare-Kurzkrimi: Eine Nacht in Le Havre

Merde, merde, merde! Ich bahnte mir, dem Klang der Stimme folgend, meinen Weg durch die blickdichte Mauer aus dem Rauch unzähliger Gauloises und Marlboros bis hin zu meinem Stammplatz an der Theke, dem ausgewiesenen Nichtraucherplatz mit Blick über den Hafen. Nachts um zwei ist die einzige Zeit, zu der ein Containerhafen genau das ausstrahlt, was ich suchte, als ich diesen Job annahm: Seefahrer-romantik.

Schon tauchte Jean-Louis mit meinem Sandwich au Jambon auf. „Keinen Tag länger mache ich diesen Job, ich schmeiß alles hin, du wirst es sehen!“ Jean-Louis war klein, kugelrund und knuddelig. Ich habe mir sagen lassen, dass er seit Menschengedenken diese Hafenkneipe führt. Früher soll er ja mal ein schickes Restaurant in der Innenstadt gehabt haben, in der Nudeln „Pasta“ hießen und die Weingläser auf die Rebsorte abgestimmt wurden. „Merde!“

„Was’n los?“ murmelte ich zwischen einem kräftigen Bissen Schinken und einem aseptischen Hollandsalatblatt hindurch.

Jean-Louis fuchtelte mit den Armen. „Dieser Manolo. Er will nicht im Klo wischen.“ Manolo stammte irgendwo aus Südamerika. Ungelernt und der Sprache kaum mächtig, musste er nehmen, was er kriegen konnte. Also wurde er Putze bei Jean-Louis. Aber nicht mal Manolo traute sich aufs Männerklo. Gestandene Seebären kamen grün im Gesicht aus der Toilette. Es ging das Gerücht, dass die Pinkelbecken mittlerweile lebten und die Invasion des Hafens, ja ganz Frankreichs planten.

In seinen roten Bart fluchend, marschierte Jean-Louis zurück in die Küche. Ich lächelte seinem verschwindenden Rücken hinterher. Der kleine Wirt war mein einziger Kumpel weit und breit, obwohl ich nun schon ein halbes Jahr hier lebte und arbeitete.

Ich sah durch ein schmieriges Fenster hinaus auf den Containerhafen, menschenleer, in ein unwirkliches Licht getaucht. Nur vereinzelt zeigefingerten Löschkräne in den mondhellen Himmel. Das war mein Arbeitsplatz, und der von 15000 anderen. Weil wir nicht in ein Meer aus Nadelstreifen eintauchen und unsere Beinmuskulatur durch Schreibtischarbeit atrophieren lassen wollten oder konnten, lernten wir Kranführer, Löscharbeiter, Seemann oder Sicherheitsfrau – letzteres war meine Wenigkeit.

Wer mich so sah, dachte eher an Rumäniens neue Kugelstoß-Hoffnung als an eine zarte Elfe, und wahrscheinlich hatte ich deswegen auch den Job bei der privaten Sicherheitsfirma bekommen, weil ich „wie ein gestandener Kerl“ aussah. Ich redete mir gern ein, dass Stöckelschuhe und Spitzendessous aus mir ein ganz passables weibliches Wesen machen würden, aber das trifft auf Gérard Depardieu ja auch zu.

So fiel ich unter all den Kerlen, zumeist einheimischen Hafenarbeitern, die sich selbst zu dieser unchristlichen Zeit in Jean-Louis’ Schenke stärkten, auch nicht weiter auf. Ich war „einer von ihnen“. Sogar meine Freizeit verbrachte ich hier, aß, trank, spielte Karten mit irgendwelchen Typen, die glaubten, mich betuppen zu können, und dabei waren nicht einmal ihre Tätowierungen richtig geschrieben.

Es war frisch in dieser Nacht.

Ich überlegte mir gerade, ob ich Jean-Louis ausnahmsweise um einen wärmenden Calvados angehen sollte, als die Tür aufging und ich durch die Rauchschwaden ein neues Gesicht hereinspazieren sah. Es musterte die Anwesenden, streifte auch mich mit einem schnellen Blick, rief dann „Salü“ und näherte sich dem Tresen.

Ein gewaltiger Hormonschub überfiel mich wie ein südamerikanischer Guerillakämpfer, der nicht die Absicht hat, Gefangene zu machen. Ich stehe nun mal auf diese großen, schwarzhaarigen Typen in engen Designerjeans, denen lässig einige Büschel Haare aus dem Hemdausschnitt wuchern. Jean-Louis raunte mir zu: „Mach den Mund wieder zu. Der ist nichts für dich.“ Aber hier nützte auch der gute Ratschlag eines Freundes nichts. Ich pirschte mich an diesen wandelnden Adonis heran und bestellte zur Tarnung einen Calva.

„Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“ Meine Anmache war so unoriginell wie immer. Der Mädelschwarm musterte mich lächelnd. „Sind Sie für die Sicherheit der Kneipe verantwortlich? Ich gelobe, meine Absichten sind ehrenwert.“ Sein Parfüm versengte mir mit seiner erotischen Schärfe das kritische Wachbewusstsein. „Wie schade, dann muss eine Überprüfung meinerseits wohl entfallen...“

In diesem schicksalsträchtigen Moment hatte für mich die Frauenbewegung niemals stattgefunden. Die Suffragetten hatten umsonst gekämpft – nur ein einziger Gedanke brannte sich in meine Gehirnwindungen ein: Nimm mich!

Nicht viele Kerle sind Manns genug, der Anmache einer einsachtzig Frau mit Fleisch- und Muskelbergen und auch noch in Uniform gefasst Paroli zu bieten. Zu meiner großen Freude gehörte Monsieur Gutaussehend zu diesem auserwählt kleinen Kreis. Ich sprach ein kurzes Dankgebet.

„Aber ich bitte Sie, um nichts in der Welt möchte ich diese... Überprüfung versäumen“, säuselte er mit erotischem Timbre. Er lächelte. Ich lächelte. Jean-Louis rollte mit den Augen. „Du solltest jetzt erst mal deine Runde fortsetzen. Dafür wirst du schließlich bezahlt“, nölte er mit Blick auf die Uhr über dem Eingang in meine Richtung.

Die Stimme der Vernunft hatte nicht ganz unrecht. Es war Dienstag. Dienstags zog der Chef unserer Sicherheitsfirma mit Vorliebe seine spontanen Überraschungsvisiten durch. Es würde ihm nicht gefallen, mich auf Teufel komm raus flirtend in einer Kneipe vorzufinden anstatt mit Argusaugen wachend zwischen irgendwelchen Containergebirgen. „Ich brauche nicht lange“, hauchte ich als verruchtes Greta-Garbo-Imitat. „Ich werde hier sein“, hauchte er zurück.

In einem untypischen Anfall von aggressiver Energie hatte ich Monsieur LeBlanc davon überzeugt, dass seiner privaten Sicherheitstruppe eine Frau wie ich fehlte. Wenn er mich nicht genommen hätte, hätte ich ganz schön alt ausgesehen. Und ganz schön arbeitslos.

Gut, ich war nicht gerade das, was man qualifiziert nennt – aber wieviel Qualifikation braucht man, um nächtens durch menschenleere Hafenanlagen zu patrouillieren, Container zu zählen und im Falle eines Falles schnell den Rückzug anzutreten und die echten Cops zu verständigen? Man braucht gutes Schuhwerk und muss das kleine Einmaleins beherrschen, mehr nicht.

Ich liebte den Ozean, und die Arbeit brachte mir zwar nicht das Meer nahe, aber doch wenigstens den Geruch. Oder was ich mir als Stadtmensch unter dem Geruch des Meeres vorstellte.

Hin und wieder lieferten Hafenpolizei und Drogendezernat filmreife Einlagen – ganze Hundertschaften rückten an, um irgendeinen Menschen- oder Drogenhandel spektakulär und medienwirksam zu zerschlagen. Meine Kollegen und ich standen dann staunend in der zweiten Reihe, und wenn Einsatz- und Fernsehübertragungswagen verschwunden waren und sich der Staub gelegt hatte, machten wir wieder unsere Runde. Brav, unbewaffnet und ereignislos.

Ich kontrollierte ein paar Hallen sowie die davor aufgetürmte Containerhügellandschaft und die dazugehörige Anlegestelle. Klingt wenig, aber meine übliche Runde dauerte gut und gerne eine Stunde. Diesmal hatte ich sie ein klein wenig abgeändert. Ich kontrollierte erst den Abschnitt, von dem aus ich die Kneipe im Blick hatte. Nur um sicher zu gehen, dass mein „Dessert“ sich nicht fluchtartig von dannen machte. Offenbar nicht. Unüblich schnell kam ich daraufhin voran.

Im bleichen Mondlicht stieg ich eine dreiviertel Stunde später die Steinstufen zur letzten Halle hoch. „2 Uhr 59“, notierte ich in mein Dienstbuch, „keine besonderen Vorfälle“. Kein heftig schnaufender, ausgehungerter Seemann und keine abgetakelte Hure, die sich einen dunklen Winkel aussuchten, um für ein paar Francs eine billige und schnelle Nummer zu schieben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 12. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Tatjana Kruse und Benoit Pesle

Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, lebt als Übersetzerin und Autorin in Stuttgart. 1996 erhielt sie für Cool-Man schlägt zu als bestem deutschem Kurzkrimi den Marlowe-Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. Sie ist Mitglied der Autorinnen- und Autorenvereinigungen Sisters in Crime und Syndikat.

Benoit Pesle, Jahrgang 1955, wuchs in Le Havre auf. Er studierte am Institut d’Audiovisuel in Paris. Seit 1983 lebt er als freier Fotograf in Paris und im Burgund. Er ist Mitglied der Agentur Anzensberger. Dies ist sein erster Beitrag in mare

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Vita Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, lebt als Übersetzerin und Autorin in Stuttgart. 1996 erhielt sie für Cool-Man schlägt zu als bestem deutschem Kurzkrimi den Marlowe-Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. Sie ist Mitglied der Autorinnen- und Autorenvereinigungen Sisters in Crime und Syndikat.

Benoit Pesle, Jahrgang 1955, wuchs in Le Havre auf. Er studierte am Institut d’Audiovisuel in Paris. Seit 1983 lebt er als freier Fotograf in Paris und im Burgund. Er ist Mitglied der Agentur Anzensberger. Dies ist sein erster Beitrag in mare
Person Von Tatjana Kruse und Benoit Pesle
Vita Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, lebt als Übersetzerin und Autorin in Stuttgart. 1996 erhielt sie für Cool-Man schlägt zu als bestem deutschem Kurzkrimi den Marlowe-Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. Sie ist Mitglied der Autorinnen- und Autorenvereinigungen Sisters in Crime und Syndikat.

Benoit Pesle, Jahrgang 1955, wuchs in Le Havre auf. Er studierte am Institut d’Audiovisuel in Paris. Seit 1983 lebt er als freier Fotograf in Paris und im Burgund. Er ist Mitglied der Agentur Anzensberger. Dies ist sein erster Beitrag in mare
Person Von Tatjana Kruse und Benoit Pesle