Dieses Sehnen nach Ewigkeit

Nicht bloß „Titanic“-Kulisse: Im Film hat das Meer – ähnlich wie die ­Wüste – oft eine bedeutende Rolle

Der bis dahin erfolgreichste Film aller Zeiten begann mit einer Nahaufnahme der Wasseroberfläche des Atlantischen Ozeans. Sanfte Bewegungen einer dunklen See füllten die Leinwände überall auf der Welt, ehe die Kamera in den Fluten versank und 3800 Meter tiefer auf Artefakte traf, die die Zuschauer in eine andere Zeit entführten.

Die Anwesenheit des Meeres im Kino war immer mehr als nur die Realisierung eines weiteren unter undenkbar vielen Settings. Das Meer hat in Kinofilmen und anderen audiovisuellen Produktionen eine narratologische Funktion. „Mit dem Meer entfliehen die Filme der Gegenwart“, schreibt die Filmwissenschaftlerin Christine Brinckmann. Mit den Bildern des Ozeans gelingt es, im Kino einen Schwebezustand zu realisieren, der dem Zeigemedium Film eigentlich fremd ist. Denn im Gegensatz zur Literatur, zur Musik oder zur Malerei kann ein Filmbild sich nicht in Andeutungen ergehen, mit Worten oder Klängen eine Fährte legen und es dem Zuschauer überlassen, die Leerstellen mit der eigenen Fantasie zu füllen. Die filmische Fotografie zeigt im Gegenteil immer ein konkretes Motiv, etwas, das vorhanden ist, eine Farbigkeit besitzt und eine wie auch immer geartete Struktur.

Lange Zeit haben viele Filmwissenschaftler daher die Auffassung vertreten, das Medium Kino könne nur gegenwärtige Geschichten erzählen. Etwas, das den Zuschauern stets vor Augen steht, könne nicht vergangen sein, so die Forschungsansicht. Geschichten im Kino seien folglich zur ewigen Gegenwart verpflichtet.

Dass es auch anders funktionieren kann, ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder an verschiedenen Filmbeispielen beschrieben worden. Und auffallend oft spielt in diesen Beispielen die See, der Ozean eine wichtige Rolle. Zu Beginn von „Titanic“ (1997) beleuchten Tauchroboter das versunkene Wrack auf dem Grund des Ozeans. Nur teilweise wird die Vergangenheit sichtbar, während der Koloss als Ganzes in ewiger Dunkelheit liegt. Wenig später wird eine alte Frau auf das an der Meeresoberfläche liegende Bergungsschiff geflogen. 3800 Meter über dem versunkenen Schiff erzählt die Zeitzeugin der Katastrophe ihre Version des „Titanic“-Untergangs, die sich als ein von Emotionen gefärbter Erinnerungstraum entpuppt. Und dessen Bilder haben nur wenig mit einer gegenwärtigen Erzählung gemeinsam.

Der ikonische rot-gelb-violett gefärbte Himmel, vor dem Rose den ersten Kuss mit Jack erfährt, die überzeichnete Farbigkeit der Erste-Klasse-Kabine, in der sie sich nackt von ihrem Geliebten malen lässt, und das isolierte Ächzen, mit dem das Rettungsboot mit ihr und ohne ihn zu Wasser gelassen wird: All das sind Momente einer Erzählung, die in der Vergangenheit liegt – und die erst durch die visuelle Verbindung mit dem Ozean als narratologisches Motiv realisierbar wird. Denn das Bild des Wassers zu Beginn dieses Filmes sprengt auch deshalb die Grenzen von Zeit und Raum, weil die Kamera die Erzählung mit dem Bild eines Ortes verbindet, der nicht existiert oder, anders gesagt, sich so andauernd und permanent verändert, dass der Blick auf das Wasser keine zeitliche Verortung zulässt.

Die Bewegung des Mediums Wasser ist absolut, die Stelle, an der die „Titanic“ sank, unwirklich. Es mag geografisch betrachtet derselbe Ort sein, an dem das Schiff vor mehr als 100 Jahren unterging; es ist gleichzeitig alles anders, die Wassermoleküle milliardenfach verrückt und durchmischt, obwohl der Ozean stets gleich aussieht. In der permanenten Veränderung des nur scheinbar stets gleich bleibenden Bildes des Ozeans liegt die Auflösung von Zeit und Raum verborgen. Und dieses Paradox macht sich das Medium Kino zunutze, wenn es die Zuschauer mittels dieser Bilder an einen Nichtort holt, der weder zeitlich noch räumlich klar begrenzt werden kann.

Das Meer kann zu einem Motiv werden, das eine enorme Bedeutung für die Struktur vieler audiovisueller Erzählungen hat, nicht nur für James Camerons „Titanic“-Verfilmung. Im Jahr 2004 feiert mit „Lost“ eine TV-Serie Premiere, die nach nur wenigen ausgestrahlten Episoden zu einem weltweiten Phänomen wurde. „Lost“ erzählt die Geschichte von den Überlebenden eines Flugzeugabsturzes, die auf einer vermeintlich einsamen Insel gestrandet sind und auf Rettung warten. Weil diese nicht kommt, gründen sie eine Art Kolonie und müssen nach und nach feststellen, dass sie so allein auf dem Eiland nicht sind.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 128. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 128

Juni / Juli 2018

Von Alexander Kohlmann

Der Dramaturg und Publizist Alexander Kohlmann, geboren 1978, interessierte sich schon immer für die komplexe Struktur von Erzählungen im Kino, der Literatur und auf dem Theater. Immer wieder stellt er fest, wie sehr der Mensch danach strebt, über die Kunst die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden – und wie wenig ihm das gelingt. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99) und die weibliche Seefahrt (No. 111).

Mehr Informationen
Vita Der Dramaturg und Publizist Alexander Kohlmann, geboren 1978, interessierte sich schon immer für die komplexe Struktur von Erzählungen im Kino, der Literatur und auf dem Theater. Immer wieder stellt er fest, wie sehr der Mensch danach strebt, über die Kunst die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden – und wie wenig ihm das gelingt. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99) und die weibliche Seefahrt (No. 111).
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Der Dramaturg und Publizist Alexander Kohlmann, geboren 1978, interessierte sich schon immer für die komplexe Struktur von Erzählungen im Kino, der Literatur und auf dem Theater. Immer wieder stellt er fest, wie sehr der Mensch danach strebt, über die Kunst die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden – und wie wenig ihm das gelingt. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99) und die weibliche Seefahrt (No. 111).
Person Von Alexander Kohlmann